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 Augsburger Zeitung

27. November 2015 

Vatikan

Papst Franziskus gerät wegen Missbrauchs-Skandal in die Kritik

Der Papst hat immer wieder erklärt, dass die Verbrechen von Klerikern an Kindern nicht geheim gehalten werden dürften. Wegen einer Bischofs-Nominierung kommen Zweifel.

Von Julius Müller-Meiningen

Wie ein rot strahlender Leuchtturm steht der Glockenturm der Kirche Sagrado Corazón de Jesús im Nobelviertel der chilenischen Hauptstadt Santiago. El Bosque, der Wald, heißt die Gegend, in dem die chilenische High Society in den Jahren der Militärdiktatur von Augusto Pinochet lebte. Wie viele andere besuchte damals auch der junge Bankierssohn Juan Carlos Cruz die Pfarrei und ihren über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Priester Fernando Karadima. Inzwischen lebt Cruz in Philadelphia, er kann gar nicht weit genug von diesem Ort des Schreckens entfernt sein. Denn Karadima, der von der damaligen chilenischen Führungsschicht verehrte Pfarrer, hatte ihn jahrelang sexuell missbraucht.

Der Fall Karadima kam 2010 ans Licht, als neben Cruz auch zwei weitere Opfer des Priesters mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen. Der Vatikan suspendierte den heute 85 Jahre alten Mann ein Jahr später von seinem Amt, strafrechtlich waren seine Taten aus den 80er Jahren verjährt. Aber die Affäre, die in Chile immer noch nicht ganz aufgeklärt ist, setzt auch Papst Franziskus in ein zweifelhaftes Licht. Cruz, inzwischen 51 Jahre alt und Kommunikationschef eines amerikanischen Chemiekonzerns, behauptet, Papst Franziskus stehe trotz aller gegenläufiger Bekenntnisse auf der Seite der Vertuscher.

Auslöser für diesen Verdacht ist die Nominierung eines Bischofs in der chilenischen Stadt Osorno durch den Papst. Am 10. Januar nominierte Franziskus den 59 Jahre alten Juan Barros und löste damit heftige Proteste aus. Obwohl die Glaubenskongregation im März bekanntgab, keine „objektiven Gründe“ gegen die Nominierung von Barros gefunden zu haben, geriet dessen Amtseinführung zu einem Chaos. Gläubige aus Osorno und Umgebung versuchten den Bischof beim Betreten der Kirche zu behindern und stimmten während der Einführungsmesse Sprechchöre an. „Barros raus!“ forderten sie.

Juan Carlos Cruz kennt Barros persönlich. „Er war dabei, als Karadima mich berührte“, berichtet der Exil-Chilene vom Missbrauch in den 80er Jahren. „Er küsste Karadima. Ich sah, wie er abscheuliche Dinge tat“, sagt Cruz am Telefon mit bebender Stimme. Nicht nur Barros war aus Karadimas katholischer Kaderschmiede, einem aus Psychodruck und Vergewaltigung bestehenden System, in El Bosque hervorgegangen, sondern Dutzende andere Priester, die heute in Chile Pfarrgemeinden leiten und über die Taten ihres ehemaligen Mentors schweigen. Neben Barros sind drei weitere von Karadima herangezogene Bischöfe in Chile im Amt. Auch sie schweigen. Und Franziskus, der Papst, der Missbrauch und Vertuschung den Kampf angesagt hat, nominierte einen von ihnen.

Schlimmer noch. Anfang Oktober veröffentlichte das Nachrichtenportal Ahora Noticias einen Videomitschnitt, auf dem der Papst anlässlich einer Generalaudienz im Zwiegespräch mit Gläubigen auf dem Petersplatz zu sehen ist. Auf die Probleme in der Diözese Osorno angesprochen, verteidigt Franziskus Barros. Der Papst sagte wörtlich, die Gläubigen in Osorno sollten sich „von diesen ganzen Linken, die diese Sache aufgebauscht haben, nicht an der Nase herumführen lassen“ und bezeichnete die Vorwürfe als „Dummheiten“. Die harten Worte des Papstes standen damit denen dreier Missbrauchsopfer konträr gegenüber. Cruz, José Andrés Murillo und James Hamilton, die ihr Missbrauchtwerden durch Karadima und die Anwesenheit von Barros bei diesen Gelegenheiten öffentlich gemacht hatten, sagen, sie fühlten sich vom Papst verletzt.

Die drei Männer klagen wegen der Misshandlungen durch Karadima in einem Zivilprozess gegen die Diözese Santiago auf Schadensersatz in Höhe von 600000 Dollar. Murillo, der heute einem Verein für Kinderschutz in Santiago vorsteht, wirft dem Papst „Doppelmoral“ vor. Cruz, der aus einem streng konservativen Elternhaus stammt, twitterte nach den Worten des Papstes über die angeblich linke Verschwörung in Osorno ironisch ein Bild mit Hammer und Sichel. Doch die Sache ist viel ernster: Cruz ist immer noch in Therapie wegen des Missbrauchs von vor 30 Jahren. Er erzählt, er weine oft und sei depressiv. Er sagt: „Ich habe Freunde, die sich umgebracht haben.“

Der Kampf gegen Missbrauch und Vertuschung ist eine der Prioritäten des Papstes. So sind zumindest seine zahlreichen Äußerungen und Aktionen in diesem Zusammenhang zu verstehen. „Die Verbrechen und Sünden des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen dürfen nicht länger geheim gehalten werden“, sagte Franziskus beim Weltfamilientag im September in Philadelphia. Der Papst versprach „eiserne Wachsamkeit“, er werde dafür sorgen, „dass alle Verantwortlichen Rechenschaft ablegen werden“.

Immer wieder kommt Franziskus mit Missbrauchs-Betroffenen zusammen. In einigen Fällen trieb er auch wegen Vertuschung von sexuellem Missbrauch verurteilte Bischöfe zum Rücktritt, wie zum Beispiel Robert Finn aus Kansas City. Das Prunkstück im Kampf gegen Missbrauch soll eine im März 2014 eingerichtete päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen sein, die dem Papst Vorschläge unterbreitet. Zuletzt wurde etwa die Einrichtung eines Vatikantribunals für Bischöfe angekündigt, die Fälle von Missbrauch vertuschen. Franziskus will auch signalisieren, dass er das Leid der Opfer ernst nimmt. So hat er etwa die Postkarte eines Betroffenen mit dem Abbild der Pietà von Michelangelo in seiner Gebetsecke aufgestellt. „Damit ich jeden Tag an ihn denke“, sagte der Papst. Die drei chilenischen Betroffenen lassen sich von diesem guten Willen nicht beeindrucken. „Der Papst ist sehr gut darin, positive Schlagzeilen zu produzieren, aber wenn es um null Toleranz bei sexuellem Missbrauch geht, lässt er zu wünschen übrig“, sagt Juan Carlos Cruz.

Kritisch mit Franziskus sind auch die beiden Betroffenen in der Vatikankommission, der Brite Peter Saunders und die Irin Marie Collins, die beide als Jugendliche von Klerikern missbraucht wurden. Collins zeigte sich angesichts der Worte des Papstes im Fall Barros „entmutigt und betrübt“. Saunders verlangt vom Papst beim nächsten Treffen im Februar eine Aussprache vor der Kommission und bezeichnete seine Aussagen als „schrecklich“. Dabei bezog sich Saunders auch auf zwei chilenische Kardinäle, die in engem Kontakt mit Franziskus stehen und eine Schlüsselrolle in der Affäre Barros spielen. Es handelt sich um den früheren Erzbischof von Santiago, Francisco Javier Errázuriz Ossa, 82, sowie dessen Nachfolger Ricardo Ezzati Andrello, 73. Die Klage der drei Betroffenen im Schadensersatzprozess von Santiago richtet sich indirekt auch gegen den früheren und den aktuellen Diözesenchef.

In einem im September veröffentlichten privaten E-Mail-Wechsel beschimpft Errázuriz den Betroffenen Cruz. „Die Schlange wird nicht obsiegen“, schreibt er etwa in Anspielung auf Cruz und den Versuch, ihn als Mitglied in die Vatikankommission aufzunehmen. Die beiden Prälaten machten ihren Einfluss im Vatikan geltend und verhinderten so die Berufung von Cruz. Nachdem die E-Mails aus dem Jahr 2013 bekannt geworden waren, entschuldigte sich der Präsident der Kinderschutzkommission, Kardinal Seán O’Malley, persönlich bei Cruz. Franziskus hingegen hatte die beiden chilenischen Bischöfe bereits vorher zu hohen Ehren kommen lassen. Seinen Freund Errázuriz, mit dem er als Erzbischof von Buenos Aires bei der Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe 2007 im brasilianischen Aparecida eng kooperierte, berief er 2013 in den achtköpfigen Kardinalsrat für die Kurienreform. Ezzati, ein Schützling von Errázuriz, wurde von Franziskus 2014 zum Kardinal ernannt.

„Für uns waren diese Nominierungen wie ein Tritt ins Gesicht, vom Papst persönlich“, sagt Cruz. Errázuriz wusste seit 2003 von den Vorwürfen gegen Karadima, reagierte aber erst, als der Vatikan 2010 ein Verfahren einleitete. Auch Ezzati soll Missbrauchstäter aus dem Klerus gedeckt haben, behauptet Cruz. Er sagt: „Der Papst steht weiterhin auf der Seite der Täter und derjenigen, die die Täter schützen.“ Als Franziskus zum Weltfamilientag nach Philadelphia kam und erneut sein Durchgreifen gegen jede Art von Missbrauch und Vertuschung ankündigte, war Juan Carlos Cruz nicht in der Stadt, sondern auf einer Familienfeier in Santiago. Cruz sagt, er sei sehr froh gewesen, dass er damals nicht in Philadelphia war.