Loreto — Ein Walfahrtsort und seine fast unglaubliche Geschichte

 

Jährlich pilgern rund fünf Millionen Menschen zum «Heiligen Haus» in Loreto, nicht viel weniger als nach Lourdes oder Assisi. Zum Jahr 2000 bereiten sich die Kapuziner erneut auf einen Pilgeransturm vor. So könnte Loreto im Jubiläumsjahr zur Jahrtausendwende auch seine internationale Dimension zurückerlangen.

 

Loreto ‑ Anziehungspunkt für Heilige und Päpste

Viele Heilige, Päpste, Gelehrte, Künstler, Regenten und auch Abenteurer begaben sich nach Loreto ‑ um der Gottesmutter für eine Gnade, eine Heilung zu danken oder um darum zu bitten. Galileo Galilei kam gleich zweimal (1618 und 1624) an den Wallfahrtsort. Und Wolfgang Amadeus Mozart kaufte hier 1770 während einer Pilgerfahrt Devotionalien für seine Mutter wie «Glöckchen und Häubchen». Woher stammt die Anziehungskraft dieses Marienheiligtums, das über Jahrhunderte zu einem geistigen Brennpunkt europäischer Geschichte und Kultur wurde? Ziel der Pilgerscharen war und ist das sogenannte Heilige Haus ‑ die «Casa Santa», ein von Ziegeln und Natursteinen gebildeter wenige Quadratmeter großer rechteckiger Raum.

Nach alter gesicherter Überlieferung handelt es sich hier um das Haus aus Nazareth in Galiläa, in dem die Jungfrau Maria geboren und erzogen wurde und die Botschaft des Engels Gabriel empfing. Auch lebte die Heilige Familie in diesem Haus in Nazareth. Wie aber gelangte das Haus Mariens ausgerechnet in die sanfte Hügellandschaft der italienischen Adriaküste nahe bei Ancona? Der exakten lauretanischen Tradition nach, die in zahlreichen Bildern, in Halbreliefs in der Kirche dargestellt und auch in einer großen Reihe nahtlos überlieferter Urkunden belegt ist, brachten Engel das Haus von Nazareth über das Mittelmeer und stellten es in Italien ab. Allerdings nicht direkt, sondern über einige Zwischenstationen. Fast 60 Päpste haben in der einen oder anderen Form die Echtheit der Santa Casa und Übertragung durch Engel anerkannt.

Während der Invasion Palästinas durch die Mamelucken im Jahr 1291 kam das Haus zunächst nach Illyrien, dem heutigen Dalmatien, und von dort 1294 nach Italien in das Gebiet der Gemeinde Recanati. Natürlich hat es immer Zweifler und Spötter gegeben, die das Wunder der Übertragung durch Engel geleugnet haben. Dem Komödiendichter Goldoni schien das Wunder so unglaublich, dass er nach eigenem Bekunden mehr von den Weinkellern des pittoresken Ortes beeindruckt war.

 

Die Archäologie bringt Beweise

Dennoch haben gerade die letzten Jahrzehnte archäologischer Forschung erstaunliche Ergebnisse über die Herkunft des Gebäudes erbracht. Wichtigste Quellen sind die archäologischen Forschungen, die zwischen 1955 und 1960 in der Verkündigungsbasilika in Nazareth und zwischen 1962 und 1965 in Loreto durchgeführt wurden. Die Ausgrabungen in Palästina haben gezeigt, dass bereits im 2. Jahrhundert jüdische Christen die Wohnung Marias als Ort der Verehrung gestaltet und darüber eine Kirche im Synagogen‑Stil errichtet hatten. Byzantinische Christen zerstörten die Synagoge und erbauten im 5. Jahrhundert darüber eine Kirche, die wiederum im 11. Jahrhundert von französischen Kreuzrittern durch ein weitaus größeres Gotteshaus ersetzt wurde. Das Haus Mariens fand in der Krypta Schutz. In der Verkündigungsbasilika in Nazareth wird heute die sogenannte Herberge Marias verehrt, eine in den Fels gehauene Grotte.

Schaut man nun auf das «Heilige Haus » in Loreto, so ergeben sich auf den ersten Blick einige Besonderheiten. Der ursprüngliche Kern des Heiligen Hauses besteht nur aus drei Wänden. Im unteren Teil ist er aus Naturstein gemauert, der in dieser Gegend nicht vorkommt. Außerdem hat es kein Fundament und widerspricht in seiner Ausrichtung den in Italien einfachsten gebräuchlichen Bauregeln. Denn das einzige Fenster liegt in der Westwand, so dass Tageslicht nicht eintreten kann; die Tür geht wiederum auf die Nordseite und wäre damit Wind und Wetter ausgesetzt gewesen. Nimmt man den Bau aber in seiner ursprünglichen Form, und setzt ihn vor die Grotte in Nazareth, passt er sich nicht nur nahtlos ein, sondern findet auch eine sinnvolle Ausrichtung.

 

Päpstliche Bestätigung der mehrfachen Übertragung

Papst Klemens VIII. lässt auf der Ostseite der Marmorhülle der Santa Casa 1595 die hochfeierliche Inschrift anbringen, die man noch immer dort liest: «Christlicher Pilger, der du aus Frömmigkeit und um ein Gelübde zu erfüllen hierhin gekommen bist, du siehst das Heilige Loreto‑Haus, in der ganzen Welt verehrungswürdig durch göttliche Geheimnisse und den Glanz der Wunder. Hier ist die heiligste Gottesmutter Maria zur Welt gekommen, hier vom Engel begrüßt worden. Hier ist das Ewige Wort Gottes Fleisch geworden ... » Der Papst hält es nicht für nötig, wie sonst üblich beizufügen: «wie frommer Glaube und die Volksüberlieferung meldet». Auch die von Angelita und vielen früheren Autoren angegebenen Jahreszahlen werden von Papst Klemens VIII. übernommen, also 1291 die Übertragung von Nazareth nach Tersato (bei Rijeka) und 1294 die Übertragung «an einen Ort im Picenum bei Recanati in einen Hain dieses Hügels». (Dort unten am Strand der Adria steht noch heute eine Nachbildung des Heiligen Hauses.)

 

Wissenschaftlich belegte Herkunft

Weitere Hinweise auf die Herkunft des Heiligen Hauses aus Palästina ergab eine wissenschaftliche Erforschung des Baumaterials. Die Steine wurden mit einer bestimmten Technik bearbeitet, die bei den Nabatäern gebräuchlich war ‑ einem Nachbarvolk der Hebräer, das auch in Palästina vertreten war. Auf den Wänden finden sich ferner Sgraffito‑Malereien, die ausgeprägte Ähnlichkeit mit Malereien in Nazareth aufweisen und sich zum Teil auf die jüdisch‑christliche Zeit des 2. bis 5. Jahrhunderts beziehen. So lautet etwa eine Inschrift, die als griechische Abkürzung entziffert wurde und zwei miteinander verbundene hebräische Buchstaben enthält, übersetzt «Oh Jesus Christus, Sohn Gottes».

 

Ein Zentrum berühmter Künstler

Schon im 14. Jahrhundert hatte sich der Ort zu einem europäischen Pilgerzentrum entwickelt. Im Lauf der weiteren Jahrhunderte kamen verschiedene Päpste, Staatenführer wie etwa Kaiser Friedrich Ill., oder Kardinäle, Bischöfe und Heerführer an diesen Ort. Das Heiligtum entwickelte sich auch zu einem Zentrum berühmter Künstler und Architekten. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurde mit dem Bau des Apostolischen Palastes begonnen und Giuliano da Sangallo stellte im Jahre 1500 die berühmte Kuppel fertig. Auch in der Renaissance blieb Loreto ein Künstlertreffpunkt. Andrea Sansovino schuf 1513 die Marmorverkleidung des Heiligen Hauses, auf der die Engel-Translation dargestellt wird. Auch Schriftsteller fanden den Weg nach Loreto. Der Dichter des Don Quichote, Miguel Cervantes, kam ebenso wie der französische Philosoph Michel Montaigne. Torquato Tasso hinterließ als Erinnerung an seinen Besuch das Kirchenlied «A la Beatissima Vergine di Loreto», das heute als Meisterwerk der religiösen Poesie des 16. Jahrhunderts gilt.

 

Dank für den Sieg über die Türken

Denkwürdig war der Besuch des Generals Marcantinio Colonna 1571 nach dem Sieg über die Türken bei Lepanto. Er ging in Begleitung der meisten seiner Offiziere und Soldaten barfuß und mit bedecktem Haupt von Portorecanati nach Loreto. Und die von den Türken befreiten Christen brachten ihre Kerkerketten als Votivgaben. Aus ihnen wurden die antiken Gitter der Seitenaltäre und vier Gittertüren des Heiligen Hauses gefertigt. Später wurde auch der Sieg über die Türken vor Wien der Fürbitte der Jungfrau von Loreto zugeschrieben. Das 17. Jahrhundert galt im wahrsten Sinne des Wortes als das goldene Jahrhundert Loretos. Aus Dank für die Geburt ihres Sohnes sandten Ludwig XIII. und Anna von Österreich 1683 ein «königliches Kind» aus reinem Gold mit dem Gewicht des Neugeborenen, sowie eine mit Diamanten besetzte Krone im astronomischen Wert von 75'000 Scudi. Christina von Schweden übergab der Jungfrau nach ihrem Übertritt zur katholischen Kirche und dem damit verbundenen Thronverzicht im Jahr 1655 Krone und Zepter.

 

Plünderung durch Napoleon

Als dann Napoleon am Abend des 3. Februar 1797 mit seinen Truppen Loreto plünderte, soll der Schatz aus Schmuckstücken und Kostbarkeiten von Monarchen und Prinzen aus allen Teilen Europas etwa fünf Millionen Scudi betragen haben. Zwar hatte Papst Pius VI. einen großen Teil des Schatzes in Sicherheit gebracht, musste ihn aber später beim Friedensvertrag von Tolentino wieder herausrücken. Napoleon hingegen konnte mit den Wertgegenständen seine maroden Staatsfinanzen sanieren. Die in Loreto verehrte Holzstatue der Muttergottes ließ er in den Louvre transportieren. Von diesem Schlag erholte sich das Marienheiligtum über lange Zeit nicht mehr. Es blieb zwar weiterhin einer der Hauptpilgerorte Italiens, doch die europäische Bedeutung büßte es ein.

 

«Das allergrößte Heiligtum des Erdkreises»

Erst im 20. Jahrhundert erfuhr es eine erneute Aufwertung. Dies macht ein Brief von Papst Pius XI. an Kardinal Sbaretti (15.8.1928) deutlich, dass es sich hier um das allergrößte Heiligtum des Erdkreises handelt, noch ungleich verehrungswürdiger als Lourdes und Fatima und andere durch berühmte Marienerscheinungen geheiligte Orte. Papst Johannes XXIII., an den eine mächtige Bronzestatue am Eingang zum Heiligtum erinnert, pilgerte am 4. Oktober 1962 zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Lauretanischen Muttergottes, um sie als «ersten Stern des Konzils» um Beistand zu bitten. Er krönte die Marienstatue des Heiligen Hauses. Papst Johannes Paul II. stattete dem Ort gleich mehrere Besuche ab. Heute pilgern wieder jährlich rund fünf Millionen Menschen zum Heiligen Haus ‑ nicht viel weniger als nach Lourdes oder Assisi. Zum Jahr 2000 bereiten sich die Kapuziner, denen die Seelsorge an Italiens populärsten Marienwallfahrtsort anvertraut ist, erneut auf einen Pilgeransturm vor. So könnte Lorete in diesem Jubiläumsjahr zur Jahrtausendwende auch seine internationale Dimension zurückerlangen.

Wenn man am Altare des Heiligen Hauses zu Loreto die Worte liest: HIC (!) VERBUM CARO FACTUM EST (Hier ist das Wort Fleisch geworden), und wenn man beim Beten des «Engel des Herrn» dort immer wieder hört: «Und hier ist das Wort Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt», dann muss man notgedrungen, falls man dieser Aussage nicht den Glauben verweigert, von unaussprechlichen Andachtsgefühlen durchschauert werden, und man fühlt sich unwillkürlich gedrängt, die armen Steine dieser heiligsten Behausung voll Ehrfurcht und Liebe zu küssen. Gjw

 

Die Anerkennung des Wunders der Übertragung durch die Päpste

Als erster anerkennt Papst Julius Il. das Wunder der Übertragung durch Engel; in seiner Bulle «In sublimia» vom 20. Oktober 1507 verkündet Julius II. der ganzen Christenheit: In der großen Kirche zu Loreto befindet sich nicht bloß ein (viel verehrtes) Muttergottesbild, sondern die tatsächliche Kammer, in der die seligste Jungfrau empfangen, aufgezogen und vom Engel begrüßt wurde und wo sie den Welterlöser empfing. Papst Klemens VIII. (1591 - 1605) bestätigt die wunderbare Übertragung noch heute gut lesbar auf der Marmor‑Umhüllung des Heiligen Hauses in Loreto. Papst Sixtus V. (1585 - 1590) hat sich derartig um Loreto verdient gemacht, dass man ihm vor der Basilika eine schöne Bronzestatue errichtete (diese Statue steht nach der Restauration nun wieder vor der Basilika).

 

Im Buch «Das Wunder von Loreto» (3. Auflage), Theresia-Verlag, findet man eine Fülle von Fakten über Loreto. (Herausgeber: Dr. G.J. Weisensee)