Maria Valtorta: Der Gottmensch — Jesus über die Propheten

 

Auszug aus dem Kapitel 579 "Jesus urteilt über Sabäa von BetLehi" über die Prophetin Sabäa

»Aber diese ist keine Prophetin. Die Zeit der Propheten ist vorüber.« »Ist die Zeit der Propheten vorüber? Warum?« »Weil wir sie nicht verdienen. Wir sind zu sehr verdorben.« »Wirklich? Und du sagst so etwas? Du, der du sie vor kurzem verurteilt hast, weil sie dasselbe sagte?« Der Schriftgelehrte ist verwirrt. Ein anderer hilft ihm: »Die Zeit der Propheten hat mit Johannes geendet. Sie nützen nichts mehr.« »Und warum?« »Weil du jetzt da bist, um uns das Gesetz zu lehren und von Gott zu sprechen.« »Auch zur Zeit der Propheten gab es das Gesetz, und die Weisheit sprach von Gott. Und doch waren auch sie da.« »Aber was haben sie denn verkündet? Deine Ankunft. Nun bist du gekommen. Man braucht sie nicht mehr.« »Wieder und wieder mußte ich die Frage von euch, den Priestern und den Pharisäern hören, ob ich Christus bin oder nicht, und weil ich es bejahte, nannte man mich einen Gotteslästerer und einen Verrückten und hob Steine auf, um sie auf mich zu werfen. Bist du nicht Zadok, genannt der goldene Schriftgelehrte?« fragt Jesus und zeigt auf den Schriftgelehrten mit der langen Nase, der die Frau mißhandelt hat, nachdem er versucht hat, sie eines Irrtums zu überführen.

»Ich bin es. Und?« »Nun, du, gerade du bist immer der erste gewesen, der das Zeichen zum Beginn des gewaltsamen Vorgehens gegen mich gab, in Gischala wie auch im Tempel. Aber ich verzeihe dir. Ich erinnere dich nur daran, daß du es tatest, indem du sagtest, daß ich nicht der Christus sein könne, während du es jetzt behauptest. Und ich erinnere dich auch an meine Herausforderung von Kedes. Bald wirst du sehen, daß ein Teil davon in Erfüllung geht. Wenn der Mond zu der Phase zurückkehrt, in der er jetzt am Himmel glänzt, werde ich dir den Beweis erbringen. Den ersten Beweis. Den anderen wirst du bekommen, wenn das Korn, das jetzt in der Erde schlummert, die noch grünen Ähren in der Brise des Nisan wiegt. Aber denen, die die Propheten für unnütz halten, antworte ich: „Wer kann dem höchsten Herrn Grenzen setzen?“ Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, es wird immer Propheten geben, solange es Menschen gibt. Sie sind die Leuchte in der Finsternis der Welt. Sie sind das Feuer in der Kälte der Welt. Sie sind die Posaunenstöße, die die Schläfrigen aufwecken. Sie sind die Stimmen, die an Gott erinnern, an seine mit der Zeit in Vergessenheit geratenen und vernachlässigten Wahrheiten, die die an die Menschen gerichtete Stimme Gottes hörbar machen und Schauer der Erregung in den vergeßlichen, in den apathischen Kindern der Menschen hervorrufen. Sie werden andere Namen haben, aber ihre Aufgabe wird dieselbe sein, ebenso wie ihr menschlicher Schmerz und ihre übermenschliche Freude. Wehe, wenn es nicht solche Seelen gäbe, die die Welt haßt, die aber Gott über alles liebt! Wehe wenn es sie nicht gäbe, um zu leiden und zu verzeihen, zu lieben und zu handeln im Gehorsam gegen den Herrn! Die Welt würde untergehen in der Finsternis, in der Kälte, in einem tödlichen Schlaf, in der Trunkenheit und in einer wilden und tierischen Unwissenheit.

Daher wird Gott sich solche Menschen erwecken, und es wird sie immer geben. Und wer wird Gott hindern können, es zu tun? Etwa du, Zadok? Oder du? Oder du? Wahrlich, ich sage euch, nicht einmal der Geist des Abraham, Jakob oder Mose, des Elija und Elischa könnte Gott diese Beschränkung auferlegen, und Gott allein weiß, wie heilig sie waren und welch große Lichter sie in der Ewigkeit sind.« »So willst du also die Frau nicht heilen und nicht einmal verurteilen? « »Nein.« »Und du hältst sie für eine Prophetin?« »Für inspiriert, ja.« »Dann bist du ein Dämon wie sie. Gehen wir. Wir haben keine Zeit mit Dämonen zu verlieren«, sagt Zadok und versetzt Jesus einen Stoß wie . . . ein Lastträger, um ihn beiseitezuschieben. Viele folgen ihm. Einige bleiben. Unter ihnen der, den sie Joël Alemet genannt haben.

 

 

579 Jesus urteilt über Sabäa von BetLehi

Komplettes Kapitel

Es ist ein gar ärmliches Besitztum, das die verschiedenartige Gesellschaft der Freunde des Zachäus ernährt. Besonders jetzt im Winter erwärmt es das Herz gewiß nicht. Und dennoch lieben sie es und zeigen es Jesus voller Stolz: die drei gepflügten, braunen Kornfelder, den Obstgarten mit den wenigen tragenden Bäumen und den anderen, die noch zu klein sind, als daß man auf einen Ertrag hoffen könnte, einige Reihen kümmerlicher Rebstöcke, den Gemüsegarten, einen kleinen Stall mit einer schmächtigen Kuh und einem Esel für die Wasserpumpe, ein Gehege mit wenigen Hühnern und fünf Taubenpaaren, sechs Schafe, eine elende Hütte mit einer Küche und drei Kammern, ein Wetterdach, das als Holzschuppen, Abstellraum und Scheune dient, einen Brunnen mit verborgenem Wasserrohr und eine Zisterne mit schlammigem Wasser. Das ist alles.

»Wenn uns das Wetter beisteht . . . « »Wenn die Tiere Junge werfen . . . « »Wenn die Bäume Wurzel fassen . . . « Alles Bedingungen . . . Alles zweifelhafte Hoffnungen . . .

Aber einer erinnert sich, in früheren Jahren von einer wunderbaren Ernte des Doras gehört zu haben, als der Meister seine Felder gesegnet hatte, damit Doras menschlicher zu seinen Bauern sei, und sagt: »Wenn du diesen Ort segnen würdest . . . Auch Doras war ein Sünder . . . « »Du hast recht. Was ich damals getan habe, obwohl ich wußte, daß er sein Herz nicht ändern würde, werde ich jetzt für euch tun, die ihr eure Herzen schon gewandelt habt.« Und er breitet die Arme zum Segen aus mit den Worten: »Ich tue es sofort, um euch zu zeigen, daß ich euch liebe.« Dann setzen sie den Weg zum Fluß fort, vorüber an gepflügten Äckern mit fetter, dunkler Erde und Obstgärten mit nun wegen der Jahreszeit kahlen Bäumen.

An einer Biegung des Weges kommen ihnen einige Schriftgelehrte entgegen. »Der Friede sei mit dir, Meister. Wir haben dich hier erwartet, um dich zu verehren.« »Nein, um sicher zu sein, daß ich keinen Betrug begehe. Ihr habt recht getan. Überzeugt euch, daß ich keine Gelegenheit gehabt habe, die Frau zu sehen, noch irgendeinen von denen, die bei ihr sind. Ihr, du und du, habt Wache gehalten beim Haus des Zachäus, und ihr habt gesehen, daß keiner von uns hinausgegangen ist. Ihr seid mir auf dem Weg vorausgegangen und habt gesehen, daß keiner von uns vorausgegangen ist. Ihr wollt mir gewisse Bedingungen stellen für die Begegnung mit dieser Frau, und ich sage euch, daß ich sie annehme, noch bevor ihr mir sie stellt.« »Aber . . . du kennst sie ja nicht . . . « »Ist es vielleicht nicht wahr, daß ihr sie mir stellen wollt?« »Es ist wahr.« »Wie ich also von dieser eurer Absicht weiß, die euch allein bekannt ist, so weiß ich auch, was ihr mir sagen werdet. Und ich sage euch, daß ich annehme, was ihr mir vorschlagen wollt, da es dazu dient, die Wahrheit zu verherrlichen. Sprecht also.« »Weißt du, wie die Dinge stehen?« »Ich weiß, daß ihr die Frau für besessen haltet und daß bisher aber kein Exorzist ihren Dämon austreiben konnte. Und ich weiß auch, daß sie keine dämonischen Worte sagt. So sagen die, die sie sprechen gehört haben!« »Kannst du schwören, sie nie gesehen zu haben?« »Der Gerechte schwört nie, da er weiß, daß er ein Recht darauf hat, daß man ihm auf sein Wort hin glaubt. Ich sage euch, daß ich sie nie gesehen habe und daß ich nie durch dieses Dorf gekommen bin. Das ganze Dorf kann dies bestätigen.« »Aber sie behauptet, dein Antlitz und deine Stimme zu kennen.« »Ihre Seele kennt mich tatsächlich durch göttliches Wollen.« »Du sagst, durch göttliches Wollen. Aber wie kannst du das behaupten? « »Man hat mir gesagt, daß sie über göttliche Dinge spricht.« »Auch der Teufel spricht von Gott.« »Aber kunstvoll mit Irrtümern vermischt, um die Menschen auf Irrwege zu führen.« »Nun gut: Wir möchten, daß du uns die Frau auf die Probe stellen läßt.« »In welcher Weise?« »Kennst du sie wirklich nicht?« »Ich habe es euch doch gesagt.« »Nun also. Wir schicken einen voraus, der schreit: „Da ist der Herr! Da ist der Herr!“ und dann werden wir sehen, ob sie den grüßt, der bei ihm ist, als ob du es wärest.« »Armselige Prüfung! Immerhin, ich nehme sie an. Wählt ihr unter meinen Begleitern, wen ihr vorausschicken wollt. Und ich werde euch mit den anderen folgen. Wenn die Frau jedoch spricht, dann müßt ihr sie reden lassen, damit ich ihre Worte beurteilen kann.« »Das ist nur gerecht! Wir sind uns einig und werden uns treu daran halten.« »So soll es sein, und möge es dazu dienen, eure Herzen zu rühren.

« »Meister, wir sind nicht alle deine Gegner. Einige von uns sind noch unentschieden . . . und haben den aufrichtigen Willen, die Wahrheit zu erkennen, um dir zu folgen«, sagt ein Schriftgelehrter.

»Das ist wahr. Und sie werden von Gott geliebt werden.« Die Schriftgelehrten prüfen die Apostel und sind erstaunt über die Abwesenheit vieler von ihnen, besonders des Iskariot. Dann wählen sie Judas Thaddäus und Johannes. Sie nehmen auch den bekehrten jungen Räuber, der blaß und mager ist und dessen Haare ins Rötliche gehen. Die also, die vom Alter und der Physiognomie her einige Ähnlichkeit mit dem Meister aufweisen.

»Wir gehen mit diesen voraus. Bleibe du mit unseren und deinen Begleitern hier und folge uns nach einiger Zeit.« Dies tun sie.

Die Wälder, die die Ufer des Flusses säumen, sind schon zu sehen.

Eine untergehende Wintersonne vergoldet die Spitzen der Bäume und wirft ein gelbliches, helles Licht auf die Personen, die sich bei den Bäumen versammelt haben.

»Seht! Seht, der Messias! Erhebt euch! Geht ihm entgegen!« rufen die Schriftgelehrten, die vorausgegangen und auf einem Seitenweg zu einer gewaltigen Eiche gelangt sind, deren halb bloßliegende Wurzeln den Leuten, die sich um ihren Stamm versammelt haben, als Sitz dienen.

Die Menschengruppe dreht sich um, steht auf und löst sich auf, um den Ankömmlingen entgegenzueilen. Bei dem Baumstamm bleiben nur drei Schriftgelehrte, Johannes von Ephesus, ein schon älterer Mann mit einer Frau und eine andere Frau, die auf einer vorspringenden Wurzel sitzt, den Rücken an den Stamm gelehnt und das Haupt auf die Knie geneigt, die sie mit den Armen umschlungen hält. Ein Schleier von einem so dunklen Violett, daß er schwarz erscheint, bedeckt sie ganz. Die Frau kümmert sich nicht im geringsten um das Geschrei und scheint irgendwo weit weg zu sein.

Ein Schriftgelehrter klopft ihr auf die Schulter: »Der Meister ist da, Sabäa! Steh auf und begrüße ihn.« Die Frau antwortet nicht und bewegt sich nicht.

Die drei Schriftgelehrten schauen einander an, lächeln ironisch und geben denen, die ihnen entgegenkommen, ein Zeichen des Einverständnisses.

Und da die Leute, die auf Jesus warten, diesen nicht kommen sehen und daher schweigen, schreien sie lauter denn je, sie und ihre Genossen, damit die Frau den Betrug nicht merkt.

»Frau«, sagt ein Schriftgelehrter zu der alten Mutter, die bei ihrer Tochter ist, »begrüße doch wenigstens du den Meister und sage deiner Tochter, daß sie es ebenfalls tun soll.« Die Frau wirft sich mit ihrem Mann vor Thaddäus, Johannes und dem reumütigen Räuber nieder. Dann erhebt sie sich und sagt zu ihrer Tochter: »Sabäa, dein Herr ist da. Huldige ihm!« Das Mädchen rührt sich nicht.

Das ironische Lächeln der Schriftgelehrten wird noch ausgeprägter, und einer von ihnen, recht mager und mit einer langen Nase, sagt mit seiner nasalen, schleppenden Stimme: »Diese Prüfung hast du nicht erwartet, nicht wahr? Und dein Herz zittert. Du fühlst, daß dein Ruf als Prophetin auf dem Spiel steht, und willst das Schicksal nicht herausfordern . . . Mir scheint, daß dies genügt, um dich als Lügnerin abzustempeln . . . « Die Frau erhebt plötzlich das Haupt, wirft den Schleier zurück und schaut den Sprecher mit weit offen Augen an, während sie sagt: »Ich lüge nicht, Schriftgelehrter. Und ich fürchte mich nicht, da ich in der Wahrheit bin. Wo ist der Herr?« »Wie? Du sagst, daß du ihn kennst und siehst ihn nicht? Du hast ihn vor dir.« »Keiner von diesen ist der Herr. Deshalb habe ich mich nicht gerührt.

Niemand von diesen.« »Keiner von diesen? Ist dieser blonde Galiläer nicht der Herr? Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß, daß er blond ist und himmelblaue Augen hat.« »Er ist nicht der Herr.« »Dann dieser große und strenge Mann. Schau, welch königliche Züge. Er ist es gewiß.« »Er ist nicht der Herr. Unter diesen hier ist der Herr nicht.« Und die Frau neigt wieder das Haupt auf die Knie wie zuvor.

Einige Zeit vergeht. Dann erscheint Jesus. Die Schriftgelehrten haben den wenigen Anwesenden Schweigen auferlegt. Daher wird sein Kommen durch kein Hosanna verraten.

Jesus kommt heran, zwischen Petrus und seinem Vetter Jakobus.

Er geht langsam . . . schweigend . . . Das dichte Gras dämpft das Geräusch der Schritte. Während die Alte sich mit ihrem Schleier die Tränen abtrocknet und ein Schriftgelehrter sie beleidigt mit den Worten: »Eure Tochter ist verrückt und lügt«, während der Vater seufzt und seiner Tochter sogar Vorwürfe macht, erreicht Jesus das Ende des Pfades und bleibt stehen.

Die Jungfrau, die nichts gesehen oder gehört haben kann, springt auf, wirft den Schleier ganz zurück, so daß ihr Kopf nun nicht mehr bedeckt ist, und streckt ihre Arme aus mit dem gewaltigen Schrei: »Seht, da ist er, mein Herr, der zu mir kommt! Dieser ist der Messias, o ihr Menschen, die ihr mich täuschen und demütigen wollt.

Über ihm sehe ich das Licht Gottes, das ihn mir zeigt, und ihm huldige ich!« Und sie wirft sich an ihrem Platz, etwa zwei Meter von Jesus entfernt, zu Boden. Das Antlitz zur Erde geneigt, zwischen den Grashalmen, ruft sie aus: »Ich grüße dich, o König der Völker, du Wunderbarer, du Friedensfürst, Vater der Jahrhunderte ohne Ende, Führer des neuen Gottesvolkes!« Und sie bleibt niedergestreckt unter ihrem weiten dunklen Mantel, dessen fast schwarzes Violett der Farbe ihres Schleiers gleicht. Aber in dem Augenblick, da sie aufgestanden ist und ihren Schleier zurückgeworfen hat und mit ausgestreckten Armen wie eine Statue vor dem schwarzen Stamm stehengeblieben ist, habe ich gesehen, daß sie unter dem Mantel ein schweres, elfenbeinweißes, wollenes Kleid trägt, das am Hals und in der Taille von einer einfachen Schnur zusammengehalten wird.

Und vor allem habe ich ihre reife Frauenschönheit bewundern können.

Sie muß etwa dreißig Jahre alt sein. Und die Dreißigjährigen in Palästina gleichen mindestens Vierzigjährigen bei uns. Denn wenn auch die Allerseligste Jungfrau Maria eine Ausnahme von der Regel darstellt, so kommt doch für die anderen Frauen die Reife schnell, besonders für die mit braunem Haar und brauner Haut und ausgeprägten Formen, wie diese hier.

Sie ist der klassische Typ der hebräischen Frau. Ich glaube, so müssen Rahel, Rut und Judit ausgesehen haben, die berühmt für ihre Schönheit waren. Sie ist groß, üppig, und doch schlank, hat eine glatte bräunlich-blasse Haut, einen kleinen Mund mit etwas aufgeworfenen Lippen von lebhaftem Rot, eine gerade lange, feine Nase, zwei dunkle, tiefgründige Augen unter den weit geschwungenen Bögen der dichten Augenbrauen und eine hohe, glatte, königliche Stirn. Das längliche Oval des Gesichts ist umrahmt von herrlichem ebenholzschwarzem Haupthaar, das einer Krone aus Onyx gleicht.

Sie ist kein liebliches Schmuckstück, sondern vielmehr eine Statue, eine Königin.

Nun erhebt sie sich, wobei sie ihre wunderschönen langen, bräunlichen Hände auf den Boden stemmt, die mit einem zarten Handgelenk in den Arm übergehen. Sie steht jetzt wieder vor dem dunklen Baumstamm, schaut schweigend auf den Meister und schüttelt des Haupt, als einige Schriftgelehrte zu ihr sagen: »Du täuschst dich, o Sabäa. Nicht er ist der Messias, sondern der, den du zuerst gesehen hast, ohne ihn zu erkennen.« Sie schüttelt energisch und sicher den Kopf und wendet ihren Blick nicht vom Herrn. Und dann verklärt sich ihr Gesicht in einem Ausdruck, von dem ich nicht sagen kann, ob er glühende Freude oder ekstatische Verzückung ist. Es ist sowohl vom einen als auch vom anderen etwas, denn sie scheint die Farbe verändert zu haben, wie jemand, der nahe daran ist, in Ohnmacht zu fallen, während das ganze Leben sich in den Augen konzentriert, die ein Licht der Freude, des Triumphes und der Liebe ausstrahlen . . . Ich weiß nicht.

Lachen diese Augen? Nein, sie lachen nicht, wie auch der strenge Mund nicht lacht. Und doch ist ein Licht der Freude in ihnen, und immer stärker und beeindruckender wird die mächtige Intensität dieser Augen. Jesus blickt sie sanft und etwas traurig an.

»Siehst du, daß sie eine Wahnsinnige ist?« flüstert ihm ein Schriftgelehrter zu.

Jesus gibt keine Antwort. Während seine Linke an der Seite herabhängt, hält er mit der Rechten den Mantel über der Brust zusammen.

Er schaut und schweigt.

 Die Frau aber öffnet den Mund und streckt wieder die Arme aus wie zuvor. Sie gleicht einem riesigen Schmetterling mit violetten Flügeln und einem Körper aus altem Elfenbein. Wieder ertönt ein Schrei von ihren Lippen: »O Adonai, du bist groß! Du allein bist groß, o Adonai! Groß bist du im Himmel und auf Erden, in der Zeit, von Jahrhundert zu Jahrhundert, und jenseits aller Zeit, seit Ewigkeiten und in Ewigkeit, o Herr, Sohn des Herrn. Unter deinen Füßen liegen deine Feinde, und deinen Thron trägt die Liebe derer, die dich lieben.« Ihre Stimme wird immer sicherer und kräftiger, während sie ihren Blick vom Antlitz Jesu löst und in die Ferne schaut, ein wenig über die Häupter derer hinweg, die sie aufmerksam umgeben und die sie mühelos beherrscht, da sie aufrecht vor dem Stamm der Eiche auf einer Erhöhung des Bodens wie auf einem kleinen Podest steht.

Nach einer Pause fährt sie fort: »Der Thron meines Herrn ist geschmückt mit den zwölf Steinen der zwölf Stämme der Gerechten.

In der großen Perle, die der Thron ist, der weiße, kostbare, strahlende Thron des allerheiligsten Lammes, sind Topase mit Amethysten, Smaragde mit Saphiren, Rubine mit Sardonyxen, Achate, Chrysolithen, Berylle, Onyxe, Diamanten und Opale eingelassen. Die da glauben, hoffen und lieben, die Reumütigen, die leben und sterben in der Gerechtigkeit, die da leiden, die sich vom Irrtum lösen und zur Wahrheit kommen, die einst hartherzig waren und in seinem Namen sanft geworden sind, die Unschuldigen, die Büßer, die auf alles verzichten, um unbeschwert dem Herrn zu folgen, die Jungfrauen, deren Seelen strahlen wie die Morgenröte am Himmel Gottes . . . Ehre sei dem Herrn! Ehre sei Adonai! Ehre sei dem König, der auf dem Thron sitzt!« Ihre Stimme ist ein klingendes Schmettern. Die Anwesenden werden von einem heiligen Schauer ergriffen. Die Frau scheint wirklich zu sehen, was sie sagt, fast als ob die goldene Wolke, die am heiteren Himmel dahinzieht und die sie mit ihrem verzückten Blick verfolgt, für sie eine Linse sei, durch die sie die himmlischen Herrlichkeiten schaut. Sie ruht sich aus, als sei sie ermüdet, aber ohne ihre Haltung zu ändern. Nur ihr Antlitz wird noch verklärter, die Haut blasser und die Augen leuchtender.

Dann beginnt sie wieder zu sprechen, während sie den Blick auf Jesus senkt, der aufmerksam zuhört, umgeben von Schriftgelehrten, die spöttisch und skeptisch den Kopf schütteln, und von den Aposteln und anderen Gläubigen, die bleich sind vor heiliger Erregung.

Sie beginnt zu sprechen mit klarer, aber weniger lauter Stimme: »Ich sehe! Ich sehe in dem Menschen das, was durch sein Menschsein verhüllt ist. Heilig ist der Mensch, aber mein Knie beugt sich vor dem Heiligen der Heiligen, der im Menschen eingeschlossen ist.« Die Stimme wird wieder laut und gebieterisch, wie ein Befehl: »Schaue deinen König, o Volk Gottes! Erkenne sein Antlitz! Die Schönheit Gottes steht vor dir. Die Weisheit Gottes hat einen Mund erhalten, um dich zu unterrichten. Nicht mehr die Propheten, o Volk Israels, sprechen zu dir vom Unnennbaren. Er selbst ist es. Er, der das Geheimnis kennt, das Gott ist, spricht zu dir von Gott. Er, der die Gedanken Gottes kennt, drückt dich an sein Herz, o Volk, das du noch ein Kind bist nach so vielen Jahrhunderten, und nährt dich mit der Milch der Weisheit Gottes, um dich erwachsen werden zu lassen in Gott. Um dies zu tun, ist er in einem Mutterschoß Mensch geworden, im Schoß einer Frau Israels, die vor Gott und den Menschen größer ist als jede andere Frau. Sie hat das Herz Gottes geraubt mit einem einzigen Schlag ihres Herzens einer Taube. Die Schönheit ihrer Seele hat den Allerhöchsten verführt, und er hat in ihr seinen Thron aufgeschlagen. Maria vom Stamm Aarons sündigte, da die Sünde in ihr war. Debora erkannte, was zu tun war, aber sie handelte nicht danach. Jaël war stark, aber sie befleckte sich mit Blut.

Judit war gerecht und fürchtete den Herrn, und Gott war in ihren Worten und erlaubte ihr die Tat, damit Israel gerettet werde. Aber aus Liebe zum Vaterland verübte sie einen Meuchelmord. Die Frau aber, die ihn geboren hat, überragt diese Frauen, denn sie ist die vollkommene Magd Gottes und dient ihm ohne zu sündigen. Ganz rein, unschuldig und schön ist der prächtige Stern Gottes von seinem Aufgang bis zu seinem Untergang. Sie ist ganz schön, strahlend und rein, um Stern und Mond zu sein, Licht für die Menschen, auf daß sie den Herrn finden. Sie geht nicht voraus und folgt nicht der heiligen Lade wie Maria des Aaron, denn sie selbst ist die Lade.

Auf den wilden Wellen dieser von der Sündenflut bedeckten Erde ist sie die rettende Arche, denn wer zu ihr kommt, findet den Herrn.

Die makellose Taube fliegt aus und bringt den Ölzweig, den Zweig des Friedens für die Menschen, denn sie ist der herrliche Ölbaum.

Sie schweigt, und in ihrem Schweigen spricht und tut sie mehr als Debora, Jaël und Judit. Sie ruft nicht auf zu Schlachten, sie stachelt nicht an zur Zerstörung, sie vergießt kein anderes Blut als das eigene, das auserwählte, das Blut, mit dem sie ihren Sohn gebildet hat.

Arme Mutter! Erhabene Mutter! . . . Judit fürchtete den Herrn, aber ihre Blüte war die eines Menschen. Diese hat ihre unversehrte Blüte dem Allerhöchsten geschenkt. Und das Feuer ist hinabgestiegen in den sanften Kelch der Lilie, und der Schoß einer Frau hat die Macht, die Weisheit und die Liebe Gottes umschlossen und getragen. Ruhm und Ehre sei dieser Frau! Singt, ihr Frauen Israels, ihr Lob!« Die Frau schweigt, als hätte ihr die Stimme versagt. Ich weiß wirklich nicht, wie sie es schafft, so lange mit dieser mächtigen Stimme zu sprechen.

Die Schriftgelehrten sagen: »Sie ist von Sinnen! Sie ist verrückt! Bringe sie zum Schweigen. Wahnsinnig oder besessen ist sie . . . Befiehl dem Geist, der sie gefangen hält, daß er von ihr weiche!« »Das kann ich nicht. Hier ist nichts als der Geist Gottes, und Gott vertreibt sich nicht selbst.« »Du tust es nicht, weil sie dich preist. Dich und deine Mutter, und das schmeichelt deinem Stolz.« »Schriftgelehrter, denke nach über das, was du von mir weißt, und du wirst sehen, daß ich keinen Stolz kenne.« »Und doch kann nur ein Dämon aus ihr reden, wenn sie eine Frau so preist. Die Frau! Was ist die Frau in Israel und für Israel? Was ist sie anderes als Sünde in den Augen Gottes? Die Verführte und die Verführerin. Wenn es keinen Glauben gäbe, würde es schwerfallen zu glauben, daß sie eine Seele hat. Es ist ihr wegen ihrer Unreinheit untersagt, sich dem Heiligen zu nähern. Und diese sagt, daß Gott in sie hinabgestiegen sei . . . « sagt ein anderer Schriftgelehrter empört, und seine Genossen pflichten ihm bei.

Jesus sagt, ohne jemandem ins Gesicht zu schauen, er scheint vielmehr mit sich selbst zu sprechen: »„Die Frau wird den Kopf der Schlange zertreten . . . Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, der Immanuel genannt werden wird . . . Ein Reis geht hervor aus der Wurzel Isai, eine Blüte entsproßt seiner Wurzel, und auf ihr wird ruhen der Geist des Herrn!“ Diese Frau ist meine Mutter.

Schriftgelehrter; deiner Weisheit zu ehren erinnere dich dieser Worte der Schrift und begreife sie.« Die Schriftgelehrten wissen nicht, was sie antworten sollen. Diese Worte haben sie schon tausendmal gelesen und gutgeheißen. Können sie sie jetzt leugnen? Sie schweigen.

Einer befiehlt, Feuer zu machen, denn eine gewisse Kälte macht sich bemerkbar an den Ufern, über die der Abendwind weht. Man gehorcht, und brennende Zweige flackern rings um die geschlossene Gruppe auf.

Das tanzende Licht der Flammen scheint die Frau aufzurütteln, die mit geschlossenen Augen dagestanden ist, scheinbar ganz in sich gekehrt. Sie öffnet die Augen, bewegt sich, schaut Jesus wieder an und ruft erneut: »Adonai, Adonai! Du bist groß! Laßt uns dem Göttlichen ein neues Lied singen! Shalom! Shalom! Melech! . . . Friede! Friede, o König, dem niemand widersteht . . . !« Die Frau schweigt plötzlich. Sie läßt zum ersten Mal, seit sie spricht, ihren Blick über jene schweifen, die Jesus umgeben, und schaut ganz besonders die Schriftgelehrten an, als ob sie sie zum ersten Mal sähe; und ohne einen erkenntlichen Grund füllen sich ihre großen Augen mit Tränen und ihr Gesicht wird traurig und trüb. Sie spricht jetzt langsam und mit tiefer Stimme, wie man über schmerzliche Dinge spricht: »Nein. Da ist jemand, der dir widersteht.

O Volk, höre! Erst seit der Zeit, da mich mein Schmerz getroffen hat, o Volk von Bet-Lehi, hast du mich sprechen gehört. Nach Jahren des Schweigens und des Schmerzes habe ich gehört und gesagt, was ich vernommen habe. Jetzt bin ich nicht mehr die jungfräuliche Witwe in den Wäldern von Bet-Lehi, die im Herrn ihren einzigen Frieden findet. Nicht nur meine Mitbürger sind um mich, denen ich sage: »Fürchten wir den Herrn, denn die Stunde ist gekommen, in der wir für seinen Ruf bereit sein müssen. Laßt uns das Gewand des Herzens schmücken, um nicht unwürdig vor seinem Angesicht zu erscheinen. Umgürten wir uns mit Stärke, denn die Stunde des Christus ist die Stunde der Prüfung. Reinigen wir uns als Hostien für den Altar, damit wir von dem angenommen werden können, der ihn gesandt hat. Wer gut ist, werde noch besser. Wer hochmütig ist, werde demütig. Wer an Wollust leidet, der bezähme sein Fleisch, um dem Lamm folgen zu können. Wer geizig ist, tue Gutes, damit Gott uns beschenke in seinem Messias. Und jeder übe Gerechtigkeit, um dem Volk des Gesegneten, der da kommt, angehören zu können.“ Nun spreche ich vor ihm und vor denen, die an ihn glauben, und auch vor denen, die nicht glauben und den Heiligen und jene, die an seinen Namen und an ihn glauben und von ihm sprechen, verspotten.

Aber ich habe keine Furcht. Ihr sagt, ich sei von Sinnen. Ihr sagt, aus mir spräche ein Dämon. Ich weiß, daß ihr mich steinigen lassen könntet als eine Gotteslästerin. Ich weiß, daß das, was ich sagen werde, für euch wie eine Beschimpfung und Gotteslästerung klingen wird und daß ihr mich hassen werdet. Aber ich fürchte mich nicht.

Vielleicht als die letzte der Stimmen, die von ihm sprechen, bevor er sich offenbart, teile ich das Los so vieler anderer Stimmen, aber ich habe keine Furcht. Zu lange währt das Exil in der Kälte und in der Einsamkeit der Erde für den, der an den Schoß Abrahams denkt, an das Reich Gottes, das Christus uns öffnet und das heiliger ist als der heilige Schoß Abrahams. Sabäa vom Karmel aus dem Stamm Aarons fürchtet nicht den Tod, sondern den Herrn. Und sie spricht, wenn er sie sprechen heißt, um nicht gegen seinen Willen zu handeln. Und sie spricht die Wahrheit, da sie von Gott spricht mit den Worten, die Gott ihr eingibt. Ich fürchte nicht den Tod. Auch wenn ihr mich einen Dämon nennt und mich steinigt wie einen Gotteslästerer, auch wenn der Vater und die Mutter und meine Brüder wegen dieser Unehre sterben, zittere ich nicht aus Furcht vor der Strafe. Ich weiß, daß der Dämon nicht in mir ist, denn in mir schweigt jeder Anreiz zur Sünde, und ganz Bet-Lehi weiß es. Ich weiß, daß die Steine nur eine kurze Unterbrechung meines Gesanges bedeuten, kürzer als ein Hauch, und danach wird mein Gesang in der Freiheit des Jenseits noch lauter ertönen. Ich weiß, daß Gott meine Angehörigen in ihrem Schmerz trösten wird; und dieser wird kurz sein, während ihre Freude als Märtyrer, als Verwandte einer Märtyrerin, ewig währen wird. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod durch euch, wohl aber vor dem Tod, der mir von Gott kommen würde, wenn ich ihm nicht gehorchte. Also rede ich. Und sage das, was mir eingegeben wird.

Höre, o Volk. Hört, ihr Schriftgelehrten Israels.« Und nun erhebt sie wieder ihre bekümmerte Stimme und sagt: »Eine Stimme, eine Stimme kommt von der Höhe und ruft in meinem Herzen: „Das alte Gottesvolk vermag den neuen Gesang nicht anzustimmen, da es seinen Erlöser nicht liebt. Die Geretteten aller Nationen werden das neue Lied singen, die Geretteten des neuen Volkes des Herrn Jesus Christus, und nicht die, die mein Wort hassen“ . . . Entsetzlich! (Sie stößt einen Schrei aus, der wahrhaft schaudern macht.) Die Stimme gibt Licht. Das Licht gewährt die Schau! Entsetzlich! Ich sehe!« Der Schrei wird fast ein Heulen. Sie windet sich, als werde sie vor einem schrecklichen Schauspiel festgehalten, das ihr Herz quält und dem sie durch die Flucht ein Ende setzen wollte. Der Mantel rutscht ihr von den Schultern, und sie steht nun in ihrem weißen Gewand vor dem großen, schwarzen Stamm des Baumes. Das langsam schwächer werdende Licht, die Reflexe des Waldes und das rötliche Licht der tanzenden Flammen verleihen ihrem Antlitz einen Ausdruck gewaltiger Tragik. Schatten bilden sich unter ihren Augen, um die Nase und unter den Lippen. Es scheint ein von Schmerz durchfurchtes Antlitz. Sie ringt die Hände und wiederholt leise: »Ich sehe! Ich sehe!« Sie schluckt ihre Tränen hinunter und fährt fort: »Ich sehe die Verbrechen dieses meines Volkes und ich bin nicht imstande, sie zu verhindern. Ich sehe die Herzen meiner Landsleute und kann sie nicht wandeln. Entsetzlich! Entsetzlich! Satan hat seine Wohnungen verlassen und ist gekommen, in ihren Herzen Aufenthalt zu nehmen.« »Heiße sie schweigen!« befehlen die Schriftgelehrten Jesus.

»Ihr habt versprochen, sie sprechen zu lassen . . . « antwortet Jesus.

Die Frau fährt fort: »Das Gesicht zur Erde, in den Schlamm, o Israel, das du noch den Herrn zu lieben weißt. Bedecke dich mit Asche, bekleide dich mit dem Bußgewand! Für dich! Für sie! Jerusalem, Jerusalem, rette dich! Ich sehe eine Stadt im Tumult, die ein Verbrechen verlangt. Ich höre das Geschrei derer, die haßerfüllt ein Blut auf sich herabrufen. Ich sehe, wie das Opfer erhöht wird am Pascha des Blutes. Ich sehe dieses Blut fließen und höre es schreien, lauter als das Blut Abels, während die Himmel sich öffnen, die Erde erbebt und die Sonne sich verfinstert. Und dieses Blut schreit nicht nach Rache, sondern bittet um Erbarmen für das mörderische Volk, um Erbarmen für uns! Jerusalem! Bekehre dich! Dieses Blut! Dieses Blut! Ein Strom! Ein Strom, der dieWelt wäscht, jedes Übel heilt, alle Schuld tilgt . . . Aber für uns, für uns in Israel ist dieses Blut ein Feuer.

Für uns ist es ein Meißel, der die Söhne Jakobs mit dem Namen Gottesmörder und mit dem Fluch Gottes zeichnet. Jerusalem! Habe Erbarmen mit dir selbst und mit uns . . . !« »Aber bringe sie doch zum Schweigen.Wir befehlen es dir!« schreien die Schriftgelehrten, während die Frau aufschluchzt und ihr Antlitz bedeckt.

»Ich vermag der Wahrheit kein Schweigen aufzuerlegen.« »Wahrheit! Wahrheit! Sie ist eine Wahnsinnige, die irre redet. Was für ein Meister bist du, daß du die Worte einer Irreredenden für Wahrheit hältst?« »Und was für ein Messias bist du, daß du eine Frau nicht zum Schweigen bringen kannst?« »Und was für ein Prophet bist du, daß du den Dämon nicht zu verjagen vermagst? Andere Male hast du es doch getan!« »Ja, früher hat er es getan. Aber jetzt ist es nicht angebracht. Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, mit dem der Menge Furcht eingejagt werden soll.« »Und ihr meint, ich hätte diese Stunde, diesen Ort und diese handvoll Menschen ausgewählt, da ich es doch auch in Jericho hätte tun können oder bei anderen Gelegenheiten, als, wie schon des öfteren, fünftausend und mehr Menschen um mich waren und mir folgten und die Tempelmauern zu eng wurden, um sie alle aufzunehmen? Und kann etwa ein Dämon solche Worte der Weisheit sagen? Wer von euch kann mit reinem Gewissen behaupten, daß ein Irrtum über diese Lippen gekommen ist? Hallen von den Lippen dieser Frau nicht die furchtbaren Worte der Propheten wider? Erkennt ihr nicht die Klagen des Jeremia und das Weinen des Jesaja und der anderen Propheten? Hört ihr nicht die Stimme Gottes durch dieses Geschöpf, die Stimme, die um Gehör bittet zu eurem eigenen Wohl? Mich hört ihr nicht an. Ich spreche – denkt ihr vielleicht – zu meinen Gunsten.

Aber diese, die mir unbekannt ist, welchen Vorteil sollte sie durch diese Worte zu erlangen hoffen? Was kann sie erwarten, wenn nicht eure Verachtung, eure Drohungen und vielleicht eure Rache? Nein, ich gebiete ihr nicht zu schweigen! Vielmehr, damit diese wenigen sie hören und auch ihr sie hört und euch bekehrt, befehle ich ihr: „Sprich! Sprich, sage ich dir, im Namen des Herrn!“« Jetzt ist es Jesus, der Macht ausstrahlt. Es ist der machtvolle Christus der Stunden des Wunders mit seinen großen magnetischen Augen, deren blauer Sternenglanz durch die Flammen eines Feuers, das zwischen der Frau und ihm lodert, noch lebendiger wird.

Die Frau hingegen, vom Schmerz überwältigt, ist weniger königlich und steht mit geneigtem Haupt da, das Gesicht von ihren Händen und den schwarzen Haaren verhüllt, die aufgelöst um die Schultern und nach vorne wallen: ein Trauerschleier über dem weißen Gewand.

»Sprich! Ich sage es dir. Sie sind nicht fruchtlos, deine schmerzlichen Worte. Sabäa vom Stamm Aarons, sprich!« Die Frau gehorcht. Aber sie spricht leise, so daß alle näherrücken, um sie besser zu hören. Es scheint, als spreche sie zu sich selbst, während sie zum Fluß hinabblickt, der rauschend zu ihrer Rechten dahinfließt mit einem letzten Aufleuchten des Wassers im sterbenden Licht des Tages. Und es scheint, als spräche sie zum Fluß: »O Jordan, heiliger Fluß der Väter mit deinen gekräuselten, wächsernen Wellen, die dem kostbaren Byssus gleichen und in denen sich die reinen Sterne spiegeln und das weiße Licht des Mondes und mit denen du die Weiden deiner Ufer liebkost, du bist der Fluß des Friedens, und dennoch kennst du so viel Schmerz. O Jordan, der du in den Stunden des Sturmes auf deinen angeschwollenen, wilden Wellen den Sand und den Raub der tausend Bäche mit dir fortträgst und vielleicht auch einen jungen Baum mit einem Nest wirbelnd zum tödlichen Abgrund des Salzmeeres reißt und kein Mitleid hast mit dem Vogelpaar, das schmerzlich schreiend dem durch deine Raubgier zerstörten Nest folgt; ebenso wirst du, o heiliger Jordan, vom Zorn Gottes geschlagen, seinen Häusern und dem Altar entrissen, dem Ruin entgegen, sterbend im großen Meer des Todes, das Volk, das den Messias nicht aufnehmen wollte, dahintreiben sehen. Mein Volk, rette dich! Glaube an deinen Herrn! Folge deinem Messias! Erkenne ihn an als den, der er ist: nicht als den König der Völker und der Heere, sondern als den König der Seelen, deiner Seelen, aller Seelen. Er ist herabgestiegen, um die gerechten Seelen zu sammeln; und er wird zurückkehren und sie mit sich ins Reich der Ewigkeit führen. O ihr, die ihr noch lieben könnt, schart euch um ihn, den Heiligen! O ihr, denen das Schicksal des Vaterlandes am Herzen liegt, folgt dem Erlöser, damit der Same Abrahams nicht gänzlich zugrunde gehe! Flieht die falschen Propheten mit den Lügenmäulern und den räuberischen Herzen, die euch vom Heil abhalten wollen. Tretet heraus aus der Finsternis, die euch umgibt. Hört auf die Stimme Gottes! Die Großen, die ihr heute fürchtet, sind schon Staub im Ratschluß Gottes. Nur einer ist der Lebendige. Die Orte, in denen sie herrschen und von denen aus sie das Volk bedrücken, liegen schon in Trümmern. Nur einer bleibt. Jerusalem! Wo sind die stolzen Söhne Zions, deren du dich rühmst? Wo sind die Rabbis und die Priester, mit denen du dich schmückst und in denen du dich selbst bewunderst? Sieh sie an! Unterjocht gehen sie über die Trümmer deiner Paläste in die Verbannung, im Gestank der durch Schwert und Hunger Getöteten. Über dir ist der Zorn Gottes, o Jerusalem, das du deinen Messias verstößt, ihm ins Gesicht schlägst und ihm das Herz durchbohrst. Alle Schönheit in dir ist zerstört. Alle Hoffnung ist für dich erstorben. Entheiligt sind Tempel und Altar . . . « »Heiße sie schweigen! Sie lästert! Heiße sie schweigen, sagen wir dir!« ». . . zerissen ist das Efod. Es dient zu nichts mehr . . . « »Du wirst schuldig, wenn du ihr nicht zu schweigen gebietest!« ». . . denn es herrscht nicht mehr. Einen anderen, ewigen Hohenpriester gibt es, der heilig und von Gott eingesetzt ist: König und Priester auf ewig; eingesetzt von dem, der sich durch die Beleidigungen des Gesalbten selbst getroffen fühlt und Rache nimmt. Ein anderer Hoherpriester.

Der wahre und heilige, der von Gott und durch sein Opfer gesalbt ist, und er tritt an die Stelle derer, auf deren Stirn die Tiara eine Schande ist, da sie schreckliche Gedanken bedeckt . . . !« »Schweige, du Verfluchte! Schweige, oder wir erschlagen dich!« Und die Schriftgelehrten schlagen wild auf sie ein. Aber sie scheint nichts zu spüren.

Das Volk lärmt: »Laßt sie reden, ihr, die ihr selbst so viel redet. Sie sagt die Wahrheit. So ist es. Es gibt keine Heiligkeit mehr bei euch.

Nur einer ist heilig, und den bedrängt ihr.« Die Schriftgelehrten halten es für klüger zu schweigen, und die Frau fährt fort mit müder und trauriger Stimme: »Er kam, um dir den Frieden zu bringen, und du hast ihm den Krieg erklärt . . . Er wollte dir das Heil bringen, und du hast ihn verhöhnt . . . Er hat dir Liebe angeboten, und du hast ihn gehaßt . . . Er hat Wunder gewirkt, und du hast ihn einen Dämon genannt . . . Seine Hände haben deine Kranken geheilt, und du hast sie durchbohrt . . . Er hat dir das Licht gebracht, und du hast mit Speichel und Schmutz sein Angesicht bedeckt. Er hat dir das Leben gebracht, und du hast ihm den Tod gegeben.

Israel, beweine deine Schuld und lästere nicht den Herrn, da du doch deinem Exil entgegengehst, das kein Ende haben wird wie das Exil früherer Zeiten. Auf der ganzen Erde wirst du umherirren, Israel, aber als ein besiegtes und verfluchtes Volk, verfolgt von der Stimme Gottes und denselben Worten, die er an Kain gerichtet hat.

Und hierher wirst du erst zurückkehren können, um dir ein sicheres Nest zu bauen, wenn du mit den anderen Völkern anerkennst, daß dieser Jesus, der Gesalbte, ist, der Herr und Sohn des Herrn . . . « Die Stimme der Frau erstirbt vor Schmerz und Anstrengung. Sie klingt wie die Stimme einer Sterbenden.

Aber sie schweigt noch nicht. Vielmehr belebt sie sich wieder zu einem letzten Befehl: »Wirf dich nieder, Volk, das du noch zu lieben weißt. Streue Asche auf dein Haupt und lege ein Bußgewand an. Der Zorn des Herrn schwebt über uns, wie eine schwere Wolke voller Blitz und Hagel über einem verfluchten Feld.« Die Frau sinkt auf die Knie, die Arme nach Jesus ausgestreckt, und ruft: »Friede, Friede, o König der Gerechtigkeit und des Friedens! Friede, o großer und mächtiger Adonai, dem nicht einmal der Vater widersteht! Erlange uns den Frieden durch deinen Namen, o Jesus, Erlöser und Messias, Retter, König und Gott, du dreimal Heiliger!« Und sie wirft sich zu Boden und schluchzt, das Gesicht im Gras verborgen.

Die Schriftgelehrten umgeben Jesus, ziehen ihn beiseite, halten alle anderen mit drohenden Blicken und Worten fern, und einer von ihnen sagt: »Das Mindeste, was du tun könntest, wäre sie zu heilen.

Denn wenn du schon meinst, daß sie nicht von einem Dämon besessen ist, so kannst du doch nicht leugnen, daß sie krank ist. Frauen! . . .

Vom Schicksal getroffene Frauen . . . Ihre Lebenskraft muß sich nach irgendeiner Seite hin austoben . . . Und sie phantasieren . . . und sehen unwirkliche Dinge . . . und vor allem sehen sie dich, der du jung und schön bist . . . und . . . « »Schweige, du Schlangenmaul! Du glaubst doch selbst nicht an deine Worte«, erwidert Jesus in einem Ton, daß die Worte im Hals des mageren Schriftgelehrten mit der langen Nase steckenbleiben, derselbe, der gleich zu Anfang die Frau als falsche Prophetin verspottet hat.

»Wir wollen den Meister nicht beleidigen. Wir haben ihn zum Richter gewählt in diesem Fall, den wir nicht beurteilen können . . . « sagt ein anderer Schriftgelehrter. Es ist der, der Jesus mit den anderen auf dem Weg entgegengegangen ist und ihm gesagt hat, daß nicht alle Schriftgelehrten seine Gegner sind, sondern daß einige noch beobachten und sich ein Urteil bilden wollen mit dem aufrichtigen Willen, ihm zu folgen, wenn sie ihn als Gott erkennen.

»Schweige, Joël, genannt Alemet, Sohn des Abija! Nur ein verkrüppelt Geborener wie du kann so etwas sagen«, fahren ihn die anderen an.

Der Schriftgelehrte wird rot vor Zorn über diese Beleidigung.

Aber er beherrscht sich und antwortet würdevoll: »Wenn die Natur mich auch benachteiligt hat, was meinen Leib betrifft, so ist doch mein Verstand nicht verkrüppelt. Ja, da ich vielen Genüssen entsagen mußte, ist aus mir ein Mann der Weisheit geworden. Und wenn ihr heilig wäret, würdet ihr einen Menschen nicht beleidigen, sondern den Weisen achten.« »Schon gut! Sprechen wir jetzt über wichtigere Dinge. Du hast die Pflicht, sie zu heilen, Meister, denn durch ihre Träume erschreckt sie das Volk und beleidigt die Priester, die Pharisäer und uns.« »Wenn sie euch gelobt hätte, würdet ihr mir dann sagen, daß ich sie heilen soll?« fragt Jesus sanft.

»Nein, denn sie würde dazu beitragen, daß das Volk uns achtet, dieses Volk von Ziegen, das uns in seinem Herzen haßt und uns verspottet, wo es nur kann«, antwortet ein Schriftgelehrter, ohne zu bemerken, daß er in eine Falle geht.

 »Dann wäre sie also keine Kranke mehr? Und ich hätte nicht die Pflicht, sie zu heilen?« fragt Jesus nochmals sanft.

Er scheint ein Schüler zu sein, der seinen Lehrer fragt, was er tun soll. Und die von Hochmut geblendeten Schriftgelehrten merken nicht, daß sie gerade ein Geständnis ablegen . . .

»In diesem Fall nicht. Im Gegenteil! In diesem Fall sollte man sie in ihrem Delirium lassen und alles nur mögliche tun, damit das Volk sie für eine Prophetin hält. Man müßte sie ehren und bekanntmachen . . . « »Aber wenn es sich um Unwahrheiten handelte . . . ?!« »Oh, Meister! Abgesehen von den Punkten, in denen sie gegen uns spricht, könnte alles übrige sehr nützlich sein, um den Stolz Israels gegenüber Rom zu stärken und den Hochmut des Volkes uns gegenüber niederzuhalten!« »Aber man könnte ihr doch nicht sagen: „Sage dies, aber sage das andere nicht“«, sagt Jesus streng.

»Und warum nicht?« »Weil jemand, der von Sinnen ist, nicht weiß, was er sagt.« »Oh, mit Geld und einigen Drohungen . . . könnte man alles erreichen.

So wurden auch die Propheten gelenkt . . . « »Davon weiß ich allerdings nichts . . . « »Ja, weil du nicht zwischen den Zeilen zu lesen verstehst, und man hat auch nicht alles niederschreiben lassen.« »Aber der prophetische Geist läßt sich nicht zwingen, o Schriftgelehrter. Er kommt von Gott, und Gott läßt sich nicht kaufen und erschrecken«, sagt Jesus in verändertem Ton. Es ist der Beginn seines Gegenangriffs.

»Aber diese ist keine Prophetin. Die Zeit der Propheten ist vorüber.« »Ist die Zeit der Propheten vorüber? Warum?« »Weil wir sie nicht verdienen. Wir sind zu sehr verdorben.« »Wirklich? Und du sagst so etwas? Du, der du sie vor kurzem verurteilt hast, weil sie dasselbe sagte?« Der Schriftgelehrte ist verwirrt. Ein anderer hilft ihm: »Die Zeit der Propheten hat mit Johannes geendet. Sie nützen nichts mehr.« »Und warum?« »Weil du jetzt da bist, um uns das Gesetz zu lehren und von Gott zu sprechen.« »Auch zur Zeit der Propheten gab es das Gesetz, und die Weisheit sprach von Gott. Und doch waren auch sie da.« »Aber was haben sie denn verkündet? Deine Ankunft. Nun bist du gekommen. Man braucht sie nicht mehr.« »Wieder und wieder mußte ich die Frage von euch, den Priestern und den Pharisäern hören, ob ich Christus bin oder nicht, und weil ich es bejahte, nannte man mich einen Gotteslästerer und einen Verrückten und hob Steine auf, um sie auf mich zu werfen. Bist du nicht Zadok, genannt der goldene Schriftgelehrte?« fragt Jesus und zeigt auf den Schriftgelehrten mit der langen Nase, der die Frau mißhandelt hat, nachdem er versucht hat, sie eines Irrtums zu überführen.

»Ich bin es. Und?« »Nun, du, gerade du bist immer der erste gewesen, der das Zeichen zum Beginn des gewaltsamen Vorgehens gegen mich gab, in Gischala wie auch im Tempel. Aber ich verzeihe dir. Ich erinnere dich nur daran, daß du es tatest, indem du sagtest, daß ich nicht der Christus sein könne, während du es jetzt behauptest. Und ich erinnere dich auch an meine Herausforderung von Kedes. Bald wirst du sehen, daß ein Teil davon in Erfüllung geht. Wenn der Mond zu der Phase zurückkehrt, in der er jetzt am Himmel glänzt, werde ich dir den Beweis erbringen. Den ersten Beweis. Den anderen wirst du bekommen, wenn das Korn, das jetzt in der Erde schlummert, die noch grünen Ähren in der Brise des Nisan wiegt. Aber denen, die die Propheten für unnütz halten, antworte ich: „Wer kann dem höchsten Herrn Grenzen setzen?“ Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, es wird immer Propheten geben, solange es Menschen gibt. Sie sind die Leuchte in der Finsternis der Welt. Sie sind das Feuer in der Kälte der Welt. Sie sind die Posaunenstöße, die die Schläfrigen aufwecken. Sie sind die Stimmen, die an Gott erinnern, an seine mit der Zeit in Vergessenheit geratenen und vernachlässigten Wahrheiten, die die an die Menschen gerichtete Stimme Gottes hörbar machen und Schauer der Erregung in den vergeßlichen, in den apathischen Kindern der Menschen hervorrufen. Sie werden andere Namen haben, aber ihre Aufgabe wird dieselbe sein, ebenso wie ihr menschlicher Schmerz und ihre übermenschliche Freude. Wehe, wenn es nicht solche Seelen gäbe, die die Welt haßt, die aber Gott über alles liebt! Wehe wenn es sie nicht gäbe, um zu leiden und zu verzeihen, zu lieben und zu handeln im Gehorsam gegen den Herrn! Die Welt würde untergehen in der Finsternis, in der Kälte, in einem tödlichen Schlaf, in der Trunkenheit und in einer wilden und tierischen Unwissenheit.

Daher wird Gott sich solche Menschen erwecken, und es wird sie immer geben. Und wer wird Gott hindern können, es zu tun? Etwa du, Zadok? Oder du? Oder du? Wahrlich, ich sage euch, nicht einmal der Geist des Abraham, Jakob oder Mose, des Elija und Elischa könnte Gott diese Beschränkung auferlegen, und Gott allein weiß, wie heilig sie waren und welch große Lichter sie in der Ewigkeit sind.« »So willst du also die Frau nicht heilen und nicht einmal verurteilen? « »Nein.« »Und du hältst sie für eine Prophetin?« »Für inspiriert, ja.« »Dann bist du ein Dämon wie sie. Gehen wir. Wir haben keine Zeit mit Dämonen zu verlieren«, sagt Zadok und versetzt Jesus einen Stoß wie . . . ein Lastträger, um ihn beiseitezuschieben. Viele folgen ihm. Einige bleiben. Unter ihnen der, den sie Joël Alemet genannt haben.

»Und ihr folgt ihnen nicht?« fragt Jesus und zeigt auf die, die weggegangen sind.

»Nein, Meister. Wir werden gehen, weil es Nacht ist; aber wir wollen dir sagen, daß wir deinem Urteil Glauben schenken. Gott vermag alles, das ist wahr. Und er kann für uns, die wir so viele Sünden begehen, Geister ins Leben rufen, die uns zur Gerechtigkeit ermahnen«, sagt ein sehr alter Schriftgelehrter.

»Das hast du gut gesagt. Und diese deine Demut ist in den Augen Gottes wertvoller als dein Wissen.« »Dann gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.« »Ja, Jakob.« »Woher kennst du meinen Namen?« Jesus lächelt, ohne zu antworten.

»Meister, erinnere dich auch an uns«, sagen die anderen drei. Und zum Schluß sagt Joël Alemet noch: »Laßt uns den Herrn preisen, der uns diese Stunde geschenkt hat.« »Laßt uns den Herrn preisen«, entgegnet Jesus.

Sie grüßen sich und gehen auseinander.

Jesus begibt sich zu den Aposteln und geht mit ihnen zu der Frau, die wieder dieselbe Haltung eingenommen hat wie zu Beginn. Sie sitzt zusammengekauert auf der vorspringenden Wurzel.

Ihre Mutter und ihr Vater fragen den Meister besorgt: »Ist unsere Tochter also ein Dämon? Sie haben es gesagt, bevor sie fortgegangen sind.« »Nein, sie ist es nicht. Beruhigt euch. Und liebt sie, denn ihr Los ist sehr schmerzlich, wie das Los aller, die ihr gleichen.« »Aber sie haben gesagt, daß du sie verurteilt hast . . . « »Sie haben gelogen. Ich lüge nicht. Beruhigt euch.« Johannes von Ephesus tritt vor mit Salomon und den anderen Jüngern »Jene oder diese?« »Jene und diese. Ist es nicht so, ihr beiden?« »Ja, sie haben zu mir und zur Mutter gesagt, daß es uns schlecht ergehen wird, wenn wir unsere Tochter nicht zum Schweigen bringen.

Und zu Sabäa haben sie gesagt: „Wenn du wieder so sprichst, werden wir dich beim Synedrium anzeigen.“ Wir sehen schlimme Tage für uns kommen . . . Aber unser Herz ist in Frieden durch deine Worte . . . Alles andere werden wir ertragen. Aber für sie . . . Was sollen wir tun? Gib uns einen Rat, Herr.« Jesus denkt nach und antwortet dann: »Habt ihr keine Verwandten fern von Bet-Lehi?« »Nein, Meister.« Jesus denkt wieder nach. Dann erhebt er sein Antlitz und schaut Josef, Johannes von Ephesus und Philippus von Arbela an. Er befiehlt: »Ihr geht mit diesen nach Bet-Lehi, und von dort mit der Frau und ihrer Ausstattung nach Aera. Sagt der Mutter des Timoneus, daß sie sie aufnehmen soll in meinem Namen. Sie weiß, was es bedeutet, einen verfolgten Sohn zu haben.« »Wir werden es tun, Herr. Das ist eine gute Entscheidung. Aera ist weit entfernt und nicht leicht zu erreichen«, sagen die drei.

Der Vater und die Mutter Sabäa küssen die Hände des Meisters, danken ihm und preisen ihn.

Jesus neigt sich über die Frau, berührt ihr verschleiertes Haupt und sagt mit sanfter Stimme zu ihr: »Sabäa, höre mir zu.« Die Frau hebt das Haupt, schaut ihn an und gleitet dann auf die Knie.

Jesus läßt die Hand auf ihrem Haupt: »Höre Sabäa. Du wirst gehen, wohin ich dich schicke. Zu einer Mutter. Ich hätte dich gerne zu meiner geschickt. Aber das ist mir nicht erlaubt. Fahre fort, dem Herrn zu dienen in Gerechtigkeit und in Gehorsam. Ich segne dich, Frau. Geh in Frieden.« »Ja, mein Herr und Gott. Aber wenn ich sprechen muß, werde ich es tun können?« »Der Geist, der dich liebt, wird dich führen je nach der Stunde.

Zweifle nicht an seiner Liebe. Sei demütig, keusch, einfältig und aufrichtig; dann wird er dich nicht verlassen. Geh hin in Frieden.« Er begibt sich wieder zu den Aposteln und dann zu Zachäus und den Seinen, die in einiger Entfernung stehengeblieben sind und auch andere Neugierige zurückgehalten haben.

»Gehen wir. Es ist Nacht. Ich weiß nicht, wie ihr nach Jericho zurückkommt, ihr, die ihr dorthin gehen müßt.« »Vielmehr die Frau und ihre Eltern . . . Aber wenn du einverstanden bist, werden wir draußen bleiben und du und sie, ihr könnt im Haus schlafen bis zum Morgen«, schlägt einer der Freunde des Zachäus vor.

»Ein guter Vorschlag. Geht und sagt Sabäa, sie soll euch mit den Ihren und den Jüngern folgen. Sie werden schlafen. Ich bleibe bei euch. Die Nacht ist windstill. Wir werden Feuer machen und zusammen auf das Morgengrauen warten. Ich werde euch belehren, und ihr werdet mir zuhören.« Und sie machen sich langsam auf den Weg im ersten Schein des Mondes . . .