Einer Mutter tiefste Sorge
Eine Mutter kehrt aus dem Jenseits zurück!

Lebenswahrer Bericht eines Priesters

B.G. Ich bin von einer der großen Pfarreien in Nantes und wohne unter demselben Dach wie mein Pfarrherr und meine vier geistlichen Mitbrüder; zusammen bilden wir eine wahrhafte Gemeinschaft der Arbeit und der Brüderlichkeit. Unsere Herzen schlagen für das gleiche Ideal. Unsere Pfarrei zählt 35‘OOO Seelen. Das bedeutet, dass es unmöglich ist, alle Leute persönlich zu kennen. Es ist unser Leid, dass wir nicht im Geiste Christi und der Apostel alle Quartiere durchwandern und in jedem Hause Besuche machen können.

Im vergangenen Monat war ich eines Abends sehr müde von der Tagesarbeit. Erst gegen Mitternacht konnte ich endlich mein Brevier fertig beten, als an der Türe des Pfarrhauses die Glocke so heftig gezogen wurde, dass ich erschrak. Da ich vermutete, es sei für einen Kranken, ging ich hinab, um die Türe zu öffnen. Auf der Schwelle stand eine Frau von etwa 40 Jahren. Flehend hob sie die Hände und sprach: «Herr Abbé, kommen Sie schnell; es handelt sich um einen jungen Mann, der sterben wird!» Ich antwortete: «Madame, ich werde morgen früh vor der Sechs-Uhr-Messe kommen.» Da sagte sie: «Herr Abbé, es wird zu spät sein; ich beschwöre Sie, zögern Sie nicht!» «Gut, schreiben Sie mir bitte die Adresse, Namen nebst Strasse, Hausnummer und Stockwerk in meine Agenda.» Die Frau eilte in das Empfangszimmer. Jetzt sah ich sie erst in voller Beleuchtung; das Gesicht war schmerzerfüllt. Sie schrieb den Namen in mein Buch und dahinter: 37, Rue Descartes, 2. Stock. Ich sagte ihr: «Sie können sich auf mich verlassen, Madame! Ich werde in 20 Minuten dort sein.» Halblaut antwortete sie: «Gott möge Ihnen Ihre Nächstenliebe vergelten. Sie sind müde. Gott möge Sie dafür in der Stunde der Gefahr beschützen!»

Dann verschwand sie in der Nacht. Ich aber nahm meinen Mantel und das Nötige zur Spendung der Sterbe-Sakramente und ging durch die leeren, finsteren Strassen der Stadt. Als mir eine Streife begegnete und den Lichtstrahl der elektrischen Lampe auf mich richtete, zeigte ich meinen Passierschein und setzte danach meinen Weg eilig fort. Dabei ging mir durch den Kopf, dass ich zu einer mir unbekannten Familie ging. Der Name, den die Frau angegeben hatte, erweckte in meinem Gedächtnis keine Erinnerung. Was sie selbst betraf, so erinnerte ich mich nur schwach, sie vor etwa drei Jahren einmal gesehen zu haben. Wieder bedauerte ich, meine Pfarrkinder nicht alle zu kennen.

Nicht ohne Mühe entdeckte ich die Nummer 37 der Rue Descartes: ein großes Mietshaus mit fünf Stockwerken und abgeblendeten Fenstern. Aus einer Wohnung erschallte gedämpftes Geräusch von einem Radio. Zum Glück war die Haustüre nur angelehnt. Beim Schein meiner Taschenlampe stieg ich die Treppe hinauf und klingelte im 2. Stock heftig, wie jemand, der erwartet wird. Schritte wurden hörbar, ein Lichtstrahl zeigte sich, dann knarrte ein Sicherheitsriegel und die Tür ging auf. Ein junger Mann von etwa 20 Jahren betrachtete mich mit ehrfurchtsvollem Erstaunen.

«Ich komme zu einem Kranken in Todesgefahr», sagte ich, «das ist doch hier?» «Nein, Herr Abbé das ist wohl ein Irrtum.» «Doch, man hat mir gesagt, in Nummer 37 der Rue Descartes, 2. Stock.» «Das ist zwar Nummer 37 dieser Strasse, 2. Stock, und ich bin ein junger Mann», fügte er lächelnd hinzu, «aber ich bin durchaus nicht im Sterben.»— Ich hatte meine Agenda mitgenommen, hielt sie ihm hin und sagte: «Eine Frau in den 40er Jahren ist gekommen, mich zu benachrichtigen; sie selbst hat diese Adresse hier hineingeschrieben.»— «Wahrhaftig, Herr Abbé mir scheint, dass ich diese Schrift kenne; wie gleicht sie derjenigen meiner...; aber nein, das ist doch zu sonderbar! Ich wohne allein mit meinem Vater, der augenblicklich Nachtdienst in der Fabrik hat. Das alles ist sicher ein Irrtum. Die Frau hat ohne Zweifel Rue Despartes schreiben wollen und hat aus Versehen Rue Descartes geschrieben. Doch, Herr Abbé, treten Sie nur einige Minuten ein! Sie haben gefroren; ich mache Ihnen einen Grog.» 

Ich trat in einen eleganten kleinen Salon, offene Bücher lagen auf dem Diwan. In einer Ecke standen ein Radio und ein Ledersessel. «Ich hörte soeben», sagte der junge Mann, «ein wenig ungarische Musik aus Wien», und er stellte ab. Dann fuhr er fort: «Herr Abbé, es sind schon zwei Jahre, dass ich Sie zu sprechen wünsche, um mich mit Ihnen bekannt zu machen, aber ich fand den Mut nicht, Sie aufzusuchen.» Er lächelte traurig verlegen und gestand: «Ich bin ein verlorener Sohn!» Auf dem Diwan sitzend, erzählt er mir sein ganzes Leben...

Ich verließ ihn, nachdem ich ihn mit Gott ausgesöhnt hatte. Dann eilte ich nach der Rue Despartes. Unterwegs dachte ich immer noch an den merkwürdigen Besuch, den ich eben gemacht hatte. Aber wir Geistlichen sind an solch sonderbare Vorkommnisse längst gewöhnt. Von den Türmen der Stadt schlug es gerade halb zwei Uhr, als ich den Theaterplatz überschritt. Plötzlich fingen die Sirenen zu heulen an. Fliegeralarm! Ich begann zu laufen, was ich konnte, aber es gab überhaupt keine Nummer 37 in der ganzen Rue Despartes, die Strasse endete mit 16.

Schon fielen die ersten Bomben im Norden der Stadt. Der Höllenlärm kam näher. Ich hatte nur noch Zeit, in den nächsten Luftschutzkeller zu flüchten. Dort verbrachte ich mit vielen Menschen drei Viertelstunden in furchtbarem Schrecken. Als ich herauskam, beleuchtete greller Feuerschein die Dächer der Stadt: es waren wenigstens 200 Brände ausgebrochen. Überall geborstene Häuser mitten in der Straße, alles voll von Rauchwolken, Staub und Verzweiflungsschreie! Ich begab mich zur nächsten Unfallstation. Schon waren in einem Hof mehrere Hunderte von Verwundeten und Toten beisammen, und immer kamen noch neue hinzu, besonders Frauen und Kinder, die meistens an der Stirne verletzt.

Ich ging von einem zum andern, erteilte die Absolution und spendete die letzte Ölung. Plötzlich musste ich mich an der Wand anlehnen: «Was haben Sie, Herr Abbé» fragte einer der Ärzte. Ich erbleichte.— «Einer Ihrer Verwandten vielleicht»— «Nein, ein Pfarrkind.» Ich war mit dem Fuß an die Leiche des jungen Mannes gestoßen, den ich von der Nummer 37 der Rue Descartes her kannte. Vor kaum einer Stunde hatte ich ihn verlassen, noch voller Leben, erfreut über die Vergebung seiner Sünden. Seine Worte fielen mir wieder ein: «Sie irren sich! Sehen Sie, ich bin ja guter Gesundheit!» Und dabei hatte er fröhlich gelacht! Und doch war er am Rande der Ewigkeit gestanden und hatte es nicht gewusst! Die Barmherzigkeit GOTTES aber hatte ihm Zeit gegeben, noch vor dem Tode beichten zu können.

Ich suchte nach seiner Brieftasche, in der Hoffnung, darin weitere Papiere zu finden. Die Arbeitskarte trug den Namen B. N    21 Jahre alt. Unter den verschiedenen anderen Papieren befand sich auch ein vergilbter Brief mit Photos. Das eine davon stellte eine Frau von ungefähr 40 Jahren dar. Ich sprang auf. Das war ohne Zweifel das Bild der Frau, die mich gegen Mitternacht im Pfarrhaus gebeten hatte, gleich den jungen Mann zu besuchen. Auf der Rückseite des Bildes las ich das einfache Wort Mama. Eine andere Photographie stellte sie auf dem Totenbett dar, die Hände gefaltet, mit dem Rosenkranz, und enthielt die zwei Daten 1898 - 8. April 1939. Ich betrachtete den vergilbten Brief. Welche Überraschung! Eine Schrift, so ähnlich der, mit der die unbekannte Frau in meine Agenda geschrieben hatte. Denken Sie nun von diesem geheimnisvollen Vorfall was Sie wollen. Für mich besteht kein Zweifel mehr. Es war die Mutter des jungen Mannes gewesen, die aus der Ewigkeit gekommen war.

«Da GOTT existiert, das Evangelium Jesu Christi wahr und das Wunderbare möglich ist», sagt Pascal, «welche Schwie­rigkeit gibt es, solches zu glauben?» Abbé P. Labutte in: Croix de I‘ Orne.

Nachwort des Übersetzers: Es ist mir gelungen, festzustellen, dass der Berichterstatter Abbé Labutte noch am Leben ist. Mit Hilfe von Freunden in Frankreich bin ich jetzt im Besitz einer vom 29. Dezember 1947 datierten Erklärung von ihm, in der er auf seine priesterliche Ehre versichert, dass die von ihm berichtete Begebenheit voll und ganz den Tatsachen entspricht.