6. Von der Macht des Willens - Teil 1

Wisse: Versuchung zum Bösen bleibt beim tüchtigen Menschen niemals ohne großen Segen und Förderung! So höre: Es gibt zwei Arten Menschen. Der eine ist so angelegt, dass ihn keine Schwachheit befällt oder doch selten. Der andere ist ihr zugänglich: von der sinnfälligen Gegenwart der Dinge wird sein äußerer Mensch leicht entflammt, sei’s zu Zorn oder eitlem Prangen oder auch sinnlich, je wie der Gegenstand ist; aber in seinem höchsten Vermögen steht er unerschüttert aufrecht und ist nicht gesonnen, der Schwachheit nachzugeben, sondern kämpft gegen sie mit aller Macht. Wo sie doch vielleicht in seiner Natur liegt, wie denn mancher von Haus aus jähzornig oder hochfärtig ist oder sonst dergleichen: aber zur sündigen Tat lässt er’s nicht kommen! Dieser soll ungleich mehr gepriesen sein, ist sein Gewinn doch weit größer, seine Tugend weit edler, als des ersten. Nur aus der Anfechtung kommt Vollkommenheit. Wie Sankt Paulus spricht. „die Tugend vollendet sich in der Schwachheit.“

Sündiger Hang ist noch nicht Sünde – aber der Wille zu sündigen, der ist bereits Sünde. Wahrhaftig! der Rechtberatene, hätt er Gewalt zu wünschen, der wird nicht wünschen, dass der sündige Hang ihm schwinde. Denn ohne ihn stünde der Mensch unsicher da in der Welt trotz allen seinen Werken, wär nicht auf seiner Hut und ermangelte dazu der Ehren des Streites wie des Siegerlohns. Erst der Anstoß und die Erschütterung durch die Untugend bringen die Tugend als den Lohn für heißes Mühen: solch Hang macht einen fleißiger, sich allerwegen in der Tugend zu üben, er treibt uns zur Tugend mit Gewalt, als eine strenge Geißel, die zur Hut und Selbstzucht anhält. Je schwächer darum sich einer findet, desto eher darf er sich der Stärke und des Sieges versehen. Denn Tugend sowohl wie Laster beruhen auf dem Willen. Durch keine Enttäuschung soll man sich abschrecken lassen, derweil man sich bei gutem Willen findet. Es sich auch nicht zu Herzen nehmen, ob man ihn auch nicht zu vollbringen vermag mit der Tat, vielmehr sich nicht für ferne achten von der Tugend, wofern man in sich rechten Willen fühlt: denn Tugend und jede Güte beruht nur auf dem guten Willen. Nichts kann dir fehlen, wenn anders du ein echtes, rechtes Wollen hast, weder Liebe noch Demut noch sonst ein Vorzug. Sondern was du mit aller Kraft und ganzem Willen willst, das besitzest du, und Gott samt allen Kreaturen können dir’s nicht benehmen. Vorausgesetzt, dass dein Wille ein ganzer, ein göttlicher und vor Gott ein gegenwärtiger ist. Nicht ein „ich wollte wohl“ – das wäre etwas Künftiges; sondern „ich will, dass es jetzo also sei!“ Überlege doch: mag ein Gegenstand auch tausend Meilen weit sein und ich fasse den Willen, ihn zu besitzen, so ist er eher mein Eigentum, als was ich im Schoße halte und will es nicht besitzen.