Lebenslauf der Anneliese Michel bis zum ersten Exorzismus

Vater Josef Michel, 1917 in Klingenberg geboren, stammt aus einer alteingesessenen Bürger- und Handwerkerfamilie. Er besuchte als Junge drei Jahre das Progymnasium m Miltenberg und kam dann im elterlichen Betrieb in dreijährige Lehre. Sein Vater hatte ein Sägewerk und war Bau- und Zimmermeister. Nach Abschluss der Lehre wurde Josef zum Arbeitsdienst und anschließend zur Wehrmacht und zum Kriegseinsatz an der West- und Ostfront eingezogen. Im Sommer 1945 kehrte er aus amerikanischer Gefangenschaft zurück. Anschließend besuchte er in München die Bauhandwerkerschule und legte 1948 die Meisterprüfung ab, um dann von seinem Vater den Betrieb zu übernehmen. So war der Wunsch seines Vaters in Erfüllung gegangen. Die Mutter hätte ihn gern als Priester gesehen, war sie doch tief religiös und hatte drei Schwestern m Ordensstand. Doch hat sie sich auch damit abgefunden, dass der Sohn Josef den Beruf seines Namenspatrons wählte.
Seine Frau Anna, geb. Fürg, holte sich Josef aus Leiblfing in Niederbayern. Sie war dort 1920 geboren, hatte 3 Jahre Lyzeum und 3 Jahre Handelsschule besucht und war dann im Büro des Vaters tätig, der dort ebenfalls ein Sägewerk besaß. Das Holzgeschäft brachte es schließlich mit sich, dass sich Josef und Anna kennen lernten und heirateten. Herr Michel baute sich östlich des Friedhofs unterhalb der Weinbergabhänge ein Wohnhaus. Es ist nach heutigen Begriffen zwar nicht als modern und keineswegs als luxuriös anzusehen; es ist jedoch praktisch gebaut mit zwei separaten Wohnungen im Erd- und Dachgeschoss. Umgeben ist es von einem Garten mit Rasen. Blumen. Sträuchern und Bäumen, wo sich eine Familie gut geborgen und daheim fühlen kann. Nicht weit weg vom neuen Wohnhaus befindet sich das vom Vater ererbte Sägewerk mit Zimmereigeschäft, das Sohn Josef erweiterte und modernisierte. Dasselbe wird heute von der 5. Generation betrieben. Die harte Arbeit im Handwerk und der Umgang mit lärmenden Maschinen und Werkzeug brachte es wohl mit sich, dass Josef äußerlich eine etwas rauhe Schale zeigt. In Ihr ist jedoch ein guter Kern, wie es seine Fürsorge für seine Familie beweist.

Kindheit

Durch ihre schulische Bildung und ihre Tätigkeit im elterlichen Betrieb war Frau Michel ihrem Mann sogleich eine kundige und erfahrene Stütze in dessen Büro. Doch manchmal musste sie auch bei ihren Eltern noch einspringen. So kam es, dass Anneliese im Geburtsort ihrer Mutter in Leiblfing am 21.9.1952 zur Welt kam. Die Taufe war am folgenden Tag im Geburtsort. Ein Schwesterchen namens Martha war bereits vor ihr da. Es soll ein sehr liebes Kind gewesen sein, das gerne betete. Der göttliche Kinderfreund hat die frühreife Martha im Alter von 8 Jahren nach einem Nierenleiden heimgeholt in sein himmlisches Paradies.
Nach Anneliese folgten noch Gertraud Maria (1954), Barbara (1956) und Roswitha Christine (1957). So war das Anwesen Michel zu einem kleinen Kindergarten geworden. Da Frau Michel viel Zeit im Betrieb opfern musste, nahm sich die im Haus wohnende Oma Michel entsprechend um die Kinder an. Ihre tiefe Religiosität wurde den Enkelkindern zum Beispiel und zum großen Segen. Weil es aber auch gut ist, wenn Kinder einen Kindergarten unter Führung einer geschulten Kinderschwester besuchen, musste auch Anneliese den Weg dorthin gehen. Sie fühlte sich jedoch in ihm nicht recht wohl, weil die anderen Kinder nicht so friedlich mit ihr umgingen. Vom Ausbleiben eines Stammhalters abgesehen, schien das Glück im Anwesen Michel daheim zu sein.

Erste Krankheit

Doch während die jüngeren Schwestern quicklebendig und gesund waren, wurde Anneliese bald von dieser, bald von jener Krankheit befallen, die die jeweils zugezogenen Ärzte als Kinderkrankheiten betrachteten. Innerhalb der ersten fünf Lebensjahre bekam Anneliese nacheinander: Masern, Ziegenpeter (Mumps) und Scharlach.

Schulzeit

Anneliese blieb dadurch schmächtig, weshalb sie auf Anraten der Lehrerin ein Jahr später, also 1959, in die Volksschule kam. Trotzdem war sie bei der Erstkommunion das zarteste Kommunionkind. Die Volksschulzeit ging schnell vorüber; denn da sie gute Fähigkeiten zeigte, wechselt sie nach der 6. Klasse ins Dalberggymnasium in Aschaffenburg über. Diese Schule ist benannt nach einem früheren Fürstbischof. Die werktägliche Fahrt zur Schule mit dem Zug machte ihr Spaß. Man konnte dabei so richtig die schöne Landschaft genießen, an den Abhängen und zeitweise am Main entlang und über den Main hinüber. Jede Jahreszeit hat ja ihren besonderen Reiz, ihren Zauber, und die Gedanken konnten dabei spazieren gehen. Man traf sich bereits im Zug mit Schul- und Klassenkameradinnen, und es entwickelte sich mit einigen eine Freundschaft, so mit Marieluise Burdich. Diese erinnerte sich als Zeugin beim Aschaffenburger Prozess, dass Anneliese fröhlich und zum Spaß aufgelegt war. Abwechslung gab es auch daheim. Weil Sport für die Gesundheit gut ist, war Anneliese Mitglied in einem örtlichen Sportverein. Sie ließ sich Unterricht im Klavier- und Akkordeonspielen geben. In ihrem Zimmer wird noch ein Zettel aufbewahrt, auf welchem sie sich zum Klavierunterricht angemeldet hat. An den Sonntagen ging es regelmäßig mit den Eltern zum Gottesdienst, manchmal auch werktags. Abends wurde gelegentlich in der Familie der Rosenkranz gebetet. So war es Tradition. Und wenn Herr Michel am Wochenende Zeit hatte, wurde ein kleiner Ausflug in Gottes herrliche Natur unternommen mit mehrstimmige; Gesang, Instrumentenmusik und der nötigen Brotzeit. Klingenberg liegt ja am südlichen Rand des wald- und bergreichen Spessart. Vom Süden schauen die Höhen des Odenwaldes herüber. Manchmal durfte Anneliese auch einen Vetter des Vaters besuchen, der in Mömbris Schullehrer war. Vielleicht kam da der Gedanke und Wunsch auf, auch den Lehrberuf zu ergreifen. Bei ihren durchwegs guten Noten hatte sie die gute Aussicht, das Abitur zu meistern. Frau Michel war um ihre Kinder besorgt, wenn sie abends einmal außer Haus mussten. Sie war sich im Gegensatz zu manch anderen Eltern ihrer Verantwortung für die Kinder wohl bewusst. Sie sagte sich, dass man die Gnaden, die man für die Bewältigung der Mühen des Ehestandes benötigt, sich bereits durch ein enthaltsames Leben vor der Ehe verdienen muss. Ihre Kinder sollten einmal rein in die Ehe eingehen. Voller Ideale war auch Anneliese. Die Fahrt von und zu der Schule brachte es wohl mit sich, dass sie auch einmal einem jungen Mann gegenübersaß, der vielleicht ihren Vorstellungen entsprechen würde. 9 bildete sich die erste harmlose Freundschaft. Wie mag sie da geträumt haben von einem künftigen Ehe- und Familienglück?! Die Zukunft kam anders.

Sonderbare Anfälle

Als nach dem Beginn des neuen Schuljahres 1968/69 Anneliese und ihre Freundin Marieluise Burdich im Zug nebeneinander saßen, wurde Annneliese ganz kurz von einer Art Ohnmacht befallen. Ihre Gedanken waren wie entschwunden, ihr Gehirn wie ausgeschaltet. Marie bemerkte dies und erschrak. Doch der Zustand währte nur kurz, und man lachte gleich darüber, nicht ahnend, welche Ursache diese Störung hatte, und was noch kommen werde. Und es kam bald schlimmer. In der folgenden Nacht wachte Anneliese plötzlich auf. Es war ihr, als würde ein übermächtiges Wesen auf ihr lasten und ihr den Atem nehmen. Sie wollte ihre im Nachbarbett schlafende Schwester rufen, konnte aber nicht. Sie war wie gelähmt. Nur mit ihren Gedanken konnte sie sich zur Muttergottes wenden. So plötzlich aber, wie dieser Anfall gekommen war. war er nach einigen Minuten wieder verschwunden. Aber das Bett war bei dieser nächtlichen Störung nass geworden, so dass sie das Bettuch auswechseln musste. Morgens fühlte sie sich noch wie erschlagen und nicht fähig, zur Schule zu fahren. Als sie dies ihrer Mutter erzählte, wurde diese von neuer Sorge erfüllt. Doch wiederholte sich diese Sache vorerst nicht mehr. Anneliese erholte sich wieder, machte ihre Schularbeiten gut und holte sich gelegentlich Entspannung beim Tennisspielen. Die lange erwarteten Sommerferien 1969 begannen. Anneliese wollte sie richtig zu Hause genießen. Die Halbzeit war bereits vorüber, da erlebte sie wie vor fast einem Jahr den Anfall wieder; am Tag eine kurze Besinnungslosigkeit und in der Nacht darauf das plötzliche Erwachen mit Atemnot, Lähmung der Arme und des ganzen Körpers. Wiederum war sie unfähig, um Hilfe zu rufen; wiederum war das Bettuch nass geworden und musste ausgewechselt werden. Die Mutter erfuhr morgens davon und ging eiligst zum Hausarzt, Herrn Dr. Gerhard Vogt. Dieser empfahl ihr,'mit Anneliese zum Nervenarzt. Herrn Dr. Lüthy in Aschaffenburg, zu gehen. Sorgen machten sich Mutter und Tochter unterwegs darüber, was dies für eine Krankheit sein soll. Was wird aus ihrem Traum, das Abitur zu erreichen und Lehrerin zu werden? Was wird aus den anderen Träumen? Herr Dr. Lüthy konnte jedoch bei der neurologischen Untersuchung keinen krankhaften Befund finden. Die Untersuchung vom 27. 8. 1969 war negativ, d. h. das gefertigte Hirnstrombild war in Ordnung. Es zeigte sich also keine Spur einer Hirnverletzung oder sonstigen Störung im Gehirn. Trotzdem vermutete der Arzt ein zerebrales Anfallsleiden, eine Grand-mal-Epilepsie. Von der Verordnung einer Arznei sah er aber ab, da die Anfälle zeitlich weit auseinander lagen.

Weitere Krankheiten

Das neue Schuljahr 1969/70 ging mit Halsschmerzen an, weshalb ihr die Mandeln entfernt wurden. Bald darauf trat eine Rippenfellentzündung auf. Eine Lungenentzündung kam hinzu. Es kam noch schlimmer; denn Anneliese wurde von Lungentuberkulose befallen und längere Zeit bettlägerig. Die Schule konnte sie daher vorerst nicht mehr besuchen. Nicht einmal am Weihnachtsfest konnte die Patientin aufstehen. Die Weihnachtstage, für andere eine Zeit der Freude, für sie eine Zeit des Verzichts! Darf sie hoffen, dass sie bald wieder mit ihren Freundinnen zur Schule fahren würde, oder soll es noch lange dauern, bis sie wieder gesund sein wird? In ihrem Bangen um die Zukunft wendet sie sich voll Innigkeit immer wieder dem Bilde des göttlichen Erlösers und seiner heiligsten Mutter zu und hofft auf ihre Hilfe. Welche Antwort darf sie von dort erwarten? Anfangs Februar 1970 musste Anneliese ins Krankenhaus Aschaffenburg eingeliefert werden. Von dort aus wurde sie am 28. Februar 1970 in die Lungenheilstätte für Kinder und Jugendliche in Mittelberg/Allgäu eingewiesen. Länger als erwartet sollte der Aufenthalt dort dauern. Als sie endlich Ende August des gleichen Jahres nach Hause durfte, kam sie ihren Geschwistern völlig verändert vor. Sie war tatsächlich anders geworden. Früher lustig und aufgelegt, zeigte sie nun Zurückgezogenheit und nur wenig Kontakt mehr zu ihren Angehörigen. Was war da während ihres Aufenthaltes in Mittelberg mit ihr geschehen? Frau Professor Dr. Goodman hat dies mit der einer Wissenschaftlerin eigenen Gründlichkeit erforscht und wie die übrigen Einzelheiten im Leben von Anneliese in ihrem Buch „Anneliese Michel und ihre Dämonen" niedergeschrieben. Mit ihrer Erlaubnis und dem Einverständnis des Verlegers darf ich sie erwähnen. Obwohl Anneliese im Heim in Mittelberg im Schlafsaal mit mehreren Mädchen aus der Oberpfalz zusammen war, fühlte sie sich meist recht einsam. Ihre Zimmergenossinnen verstand sie nicht immer. Und die steinigen, oft von Wolken umgebenen und mit Schnee bedeckten Berge der Alpen ersetzten ihr nicht die gewohnte Gegend der Heimat. In Klingenberg gefiel es ihr ja besonders gut. Oft sagte sie: ,,In Klingenberg ist es am allerbesten." Diese Heimat fehlte ihr nun; daher wurde sie manchmal vom Heimweh gepackt. Geduld wurde ihr in Briefen von daheim empfohlen. Und die brauchte sie; denn es verging eine Woche nach der anderen ohne Entlassung. Wenn abends zu Hause der Rosenkranz gebetet wurde, nahm auch sie ihn in die Hand und betrachtete dabei die großen Geheimnisse des Erlösungswerkes Christi, und sie dankte Ihm dafür und auch Seiner heiligsten Mutter. Da wurde die Perlenkette zur Verbindung mit dem Elternhaus und mit dem Himmel. Da hatte sie im Geiste vor ihren Augen das daheim in ihrem Zimmer befindliche Jesusbild, wie es die Schwester Faustine aus Polen einst nach dem Willen Jesu gemalt hatte, wie dieser sie wie ein Freund ansieht. Da hatte sie im Geist auch die Statue der Gottesmutter vor sich, die daheim in der Nähe ihres Bettes auf dem Schreibtisch steht. Doch ihr Gebet um baldige Gesundung und Entlassung wurde noch nicht erhört. Zwar durfte sie jetzt aufstehen und im Park spazieren gehen. Doch da kam eine neue Heimsuchung über sie, indem nun Herz- und Kreislaufstörungen auftraten, die die Verlängerung ihres Heimaufenthaltes notwendig machten. Solch eine Enttäuschung!
In der Nacht zum 3. Juni 1970 wurde sie wieder mitten in der Nacht aus dem Schlaf herausgerissen von dieser unsichtbaren Macht, die sie überfiel und zu erdrücken drohte. Sie wollte sich befreien; doch ihre Arme waren wie gefesselt, wie gelähmt. In dieser unsagbaren Not kam dann doch ein Aufschrei über ihre Lippen, durch den nun die anderen Mädchen im Schlafsaal aufgeschreckt wurden. Alle strömten an ihr Bett, um zu sehen, was mit ihr los sei. Auch die Nachtschwester und der Arzt kamen. Das Bett war wieder nass geworden und musste ausgewechselt werden.
Ein paar Tage darauf wurde sie von den neugierigen Oberpfälzern bestürmt und nach der Ursache dieser nächtlichen Störung befragt. Anneliese erinnerte sich, dass sie einmal im Alter zwischen 10 und 11 Jahren auf den Kopf gefallen war. Doch da seinerzeit weder Brechreiz nachfolgte, noch laut ärztlicher Untersuchung eine Gehirnerschütterung festzustellen war, konnte dieser Sturz ihre nächtlichen Anfälle nicht verursacht haben.
Weiterhin betete sie abends, wenn die anderen vor dem Abendessen in den Gängen auf- und abgingen, vor ihrem Bett sitzend, ihren Rosenkranz. Dabei fühlte sie sich eines Abends so glücklich und geborgen unter dem Schutzmantel Mariens, wie wenn die Gottesmutter wirklich bei ihr wäre. Doch die Mädchen, die nun nach und nach hereinkamen, erschraken über sie. Ihr Gesicht kam ihnen ganz anders als sonst vor. Ihre Augen, sonst blaugrau, schauten sonderbar schwarz her, und ihre Hände sahen aus wie Pfoten mit Krallen. Dies ließen sie sich nicht ausstreiten. Anneliese jedoch fühlte sich wohl und hoffte nun wieder auf baldige Entlassung. Aber wiederum wurde es nichts damit.
Am 16. Juni kam morgens die Krankenschwester und forderte sie auf. sich reisefertig zu machen, aber nicht Richtung Heimat, sondern zu einer Untersuchung beim Nervenfacharzt, Herrn Dr. Wolfgang von Haller in Kempten. Dieser fertigte ein Hirnstrombild (EEG>, das aber auch keine Störung des Gehirns aufwies und in Ordnung war wie jenes von 1969 bei Herrn Dr. Lüthy. Auch konnten epileptische Anfalle oder Muster nicht durch Anregungen ausgelöst werden. Trotzdem empfahl er medikamentöse Behandlung gegen Epilepsie. Diese Behandlung dürfte später durch den neuen Hausarzt, Herrn Dr. Kehler in Klingenberg, erfolgt sein.

Ein Teufelsgesicht zeigt sich

Als Anneliese an einem späteren Tag beim Rosenkranzgebet im Schlafsaal wieder an das vor etlichen Tagen erlebte Glückseligkeitsgefühl dachte und sich danach sehnte, zeigte sich ihr plötzlich aus der Ferne ein übergroßes, unheimliches Wesen, eine teuflische Fratze, die Blicke drohend auf sie gerichtet. Wenn es auch im nächsten Moment wieder verschwand, so war dieses Erlebnis ihr förmlich in die Glieder gefahren und hinterließ diese Vision bei ihr ein unheimliches Gefühl der Furcht. Früh hatte sie ihren Eltern geschrieben, dass sie Gott an die erste Stelle ihres Lebens stelle. War da wohl jener dagegen, den man Teufel nennt, der Widersacher Gottes und Feind der Menschen? Wollte dieser wohl seine Ansprüche anmelden? Dieses unheimliche Erlebnis brachte Anneliese niemals mehr aus ihrer Erinnerung heraus. Mit niemand aber konnte sie sich darüber aussprechen. Sie getraute sich kaum, weiterhin den Rosenkranz in die Hand zu nehmen und ihre Zuflucht zum Gebet zu suchen aus Furcht, es könnte das Unwesen wieder dagegen auftreten. Tatsächlich geschah dies noch einige Male während ihres Aufenthaltes in Mittelberg. Jedes mal erschauerte es sie aufs neue in furchtbarer Weise. Sie fühlte sich dabei gefangen wie in einem Kerker in unheimlicher Tiefe, aus dem es kein Zurück mehr geben würde. Was soll dies alles bedeuten? Soll sie etwa gar in die Gewalt des Teufels kommen, der mit seiner Beute kein Erbarmen kennen würde? W7ie soll so etwas möglich sein, da sie doch ihren Heiland liebte und verehrte!
Am 11. August hatte Dr. von Haller ein neues EEG gefertigt, das wiederum ohne Befund war. Deshalb und da Anneliese von neuen nächtlichen Anfällen nicht mehr geplagt war. durfte sie endlich am 29. August 1970 wieder nach Hause. Alle daheim hatten sich auf ihre Rückkehr gefreut: doch sie wurden - wie schon erwähnt - von ihr sehr enttäuscht. Anneliese war nicht mehr wie früher. Dafür fanden sie keine Erklärung. Ihr Vater führte ihren Zustand auf Übermüdung zurück und empfahl ihr, sich zuerst einmal auszuruhen. So begab sich Anneliese nach dem abendlichen Gebet auf ihr Zimmer. Freuen konnte sie sich aber auch hier nicht. Der Schrecken ihrer Erlebnisse steckte zu tief in ihrem Innersten. Von einem sonderbaren Bangen war sie erfasst. Auch am bald beginnenden Schulbesuch hatte sie nicht mehr die richtige Freude. Fast ein Jahr lang konnte sie ja vorher infolge» vieler Krankheiten die Schule nicht mehr besuchen, weshalb sie nun mit ihren bisherigen Klassenkameradinnen nicht in die nächsthöhere Klasse aufrücken konnte. Sie musste in der Klasse, in der sie bereits vor einem Jahr war, wieder anfangen. So war sie zwei Jahre älter als ihre neuen Klassenkameradinnen, was auch zu einer gewissen Absonderung beitrug. Mit niemand konnte sie sich zudem über ihr inneres Befinden aussprechen. So wurde sie in ihrer Klasse als eine ernste und in sich gekehrte Einzelgängerin empfunden. Ihr Zustand wirkte sich naturgemäß nicht günstig auf ihre Noten aus.

Von Arzt zu Arzt

Am 6. Oktober 1970 ging ihre Mutter mit ihr, einer Empfehlung der Heilstätte entsprechend, zur Nachuntersuchung zum Lungenspezialisten, Herrn Dr. Hans Reichelt in Miltenberg. Die Lunge fand er in Ordnung; jedoch war er mit dem Kreislauf nicht zufrieden und überwies sie daher an den Internisten, Dr. Erich Packhäuser in Miltenberg. Da Anneliese zu Beginn des neuen Schuljahres wieder einen nächtlichen Anfall hatte, schrieb er in seinem Bericht an den Hausarzt, Herrn Dr. Vogt, es müsse von einem Facharzt etwas gegen die Anfälle unternommen werden. Herr Dr. Vogt hielt es jedoch nicht für notwendig, Anneliese zum Nervenfacharzt zu schicken. Auch sah er die Ursache der Anfalle nicht im Kreislauf, verschrieb ihr aber trotzdem eine Arznei, die gegen die Anfälle wirken sollte. Anneliese aber fühlte sich weiterhin nicht wohl, litt an Depressionen und wiederholt an Abwesenheit. Ende Juni 1972 hatte sie einen erneuten schweren Anfall, der sie völlig erschöpfte. Deswegen ging ihre Mutter mit ihr am 5. September wieder zum Nervenfacharzt, Herrn Dr. Lüthy, bei dem sie bereits 1969 waren. Doch auch diesmal ergab sich kein krankhafter Befund. Trotzdem verschrieb er ihr die Arznei Zentropil wegen vermuteter Epilepsie. Zentropil ist ebenso wie das später verordnete Tegretal rezeptpflichtig, weil schädliche Nebenwirkungen auftreten können. Diese sind ebenso wie für die übrigen rezeptpflichtigen Arzneien in der von der pharmazeutischen Industrie herausgegebenen „roten Liste" aufgeführt. Vom verordnenden Arzt muss der Patient laufend daraufhin überwacht werden, ob irgendeine Nebenwirkung sich bemerkbar macht. Nur so kann er feststellen, ob er die richtige Diagnose getroffen und die entsprechende Arznei verordnet hat. Anneliese kam daher zu dieser Kontrolle wie bestellt am 18. Januar 1973. am 17. März, und am 4. und 6. Juni 1973. Das EEG vom 4. Juni 1973 wies wiederum keine krankhaften Muster auf, war also in Ordnung. Weil Anneliese am 8.11.1972 den letzten Anfall hatte, glaubte Herr Dr. Lüthy. mit Zentropil die Anfälle und damit die Epilepsie unterdrückt zu haben. Doch jetzt häuften sich die „Absenzen", „Abwesenheiten", und das Steifwerden. Außerdem nahm sie öfters einen bestialischen Gestank wahr, den andere zunächst nicht merkten. Ferner traten vor ihren Augen wieder die teuflischen Fratzen auf, nicht nur eine einzelne, sondern eine ganze Schar.

Dämonen auch hörbar

Ab Frühjahr hörte Anneliese Klopfzeichen in ihrem Zimmer. Sie fand keinen Urheber. Die Mutter glaubte ihr nicht und meinte, sie habe etwas an den Ohren. Doch Herr Dr. Vogt fand nichts und schickte sie zu einem Ohrenspezialisten, der aber auch nichts entdeckte. Das Klopfen fiel später auch ihren Schwestern auf. Es war über oder unter dem Zimmer, im Schrank oder sonst wo. Treibt da der Teufel das Spiel mit ihnen? Heftig erschrak die Mutter, als sie eines Tages ihre Anneliese vor einer Muttergottesstatue im Wohnzimmer antraf, ganz steif und mit einem hasserfüllten und verzerrten Gesicht. Ihre Hände waren wie Pfoten mit Krallen. Ohne ihre Tochter zur Rede zu stellen, eilte sie in Furcht ins Büro, um dort in der Arbeit Ablenkung zu finden. Dies vor dem Abitur! Was soll dies alles bedeuten? Die Eltern waren ratlos. Und dies alles trotz ständiger ärztlicher Behandlung und trotz der Arznei Zentropil! Nach der 4. Verordnung dieser Arznei musste sich anfangs April 1973 Anneliese vom neuen Hausarzt, Herrn Dr. Kehler, wegen Röteln behandeln lassen. Niemand dachte anscheinend daran, dass diese Erkrankung eine Folge dieser Arznei sein könnte. Die Hautreaktion ist als Nebenwirkung in der „roten Liste" aufgeführt. Zentropil wurde aber weiterhin verordnet.

Trotzdem Abitur

Mit solchen Belastungen musste Anneliese nun ins Abitur, an dem ihr eigentlich gar nicht mehr viel gelegen war. Lediglich der Mutter zuliebe ging sie noch zur Schule. Bei der Deutscharbeit wurde sie dann von einer Masse dämonischer Gespenster belästigt, so dass sie nicht vorwärts kam, und es schien, als müsse sie ihr Blatt leer abgeben. Unaufhörlich redeten ihr die Teufelsfratzen ein, sie sei verdammt, der Heiland wolle sie nicht, und sie solle ihrem Leben ein Ende machen. Mit aller Gewalt wollten sie vermutlich verhindern, dass Anneliese das Abitur meistere und Religionslehrerin werde. Doch der Himmel, den sie mit ihren Stoßgebeten bestürmte, kam ihr noch rechtzeitig zu Hilfe, und so konnte sie eine zufriedenstellende Arbeit abliefern.
So hätte sie nun Anlass gehabt, zusammen mit ihren Schwestern, die ebenfalls ihre schulischen Ausbildungen seinerzeit mit Erfolg abschließen konnten, das Abitur zu feiern und fröhlich zu sein. Doch Anneliese war nicht dazu aufgelegt. Sie hatte nicht einmal Lust, sich nun zur Ausbildung als Lehrerin an der philosophischen Hochschule in Würzburg anzumelden. Fortwährend machte sie sich ja Gedanken und Sorgen wegen dieser Teufelsgesichter.

Dämonen auch in San Damiano

In dieser Trostlosigkeit machte ihr der Vater dann den Vorschlag, doch einmal mit zum Wallfahrtsort San Damiano in Norditalien zu fahren, wo er bereits vor einigen Wochen mit einer Bus-Wallfahrt unter der Leitung von Frau Thea Hein aus Ebersbach (bei Aschaffenburg) war. Anneliese willigte ein in der Hoffnung, dort vielleicht wieder einmal die Nähe der Gottesmutter zu verspüren, wie sie dies beim Rosenkranzgebet in Mittelberg erlebt hatte. Die Mutter meldete sofort Vater und Anneliese zur Wallfahrt an. Doch als alle Wallfahrer nach Ankunft in San Damiano an der Stelle der einstigen Erscheinung der Gottesmutter vor einem Birnbaum zum Gebet versammelt waren, vermisste die Wallfahrtsleiterin die Anneliese. Im Bus fand sie sie vor. Nur mit größter Mühe konnte sie sie bewegen, doch mitzukommen. Doch Anneliese machte einen großen Bogen um das Christusbild und die Marienstatue, wo die anderen Wallfahrer in andächtigem Gebet versammelt waren. Sie war gehindert, an den heiligen Ort näher heranzutreten. Deswegen von Frau Hein angesprochen, sagte sie, dass sie nicht hintreten könnte, da ihr die Fußsohlen brennen würden. Sie konnte auch den Blick Christi nicht vertragen, und das Wasser, das dort die Leute ähnlich wie das Lourdeswasser zu schätzen wissen, kam ihr wie eine giftgrüne Brühe vor. Sie weigerte sich daher, davon zu trinken. Eine Medaille, die ihr der Vater kaufte, konnte sie nicht tragen, weil sie zu sehr ihre Brust belastete und am Atmen hinderte.
Noch sonderbarer verhielt sich Anneliese auf der Heimfahrt. Da warf sie Frau Hein im Bus zu Boden, riss ihr eine Medaille von der Brust, machte sich mit veränderter tiefer Stimme über sie lustig und verbreitete einen abscheulichen Gestank und Brandgeruch. So etwas war Frau Hein noch nicht passiert. Schon wiederholt hatte sie halbverkommene Jungen, die vom Haschisch nicht loskommen konnten, für die Fahrt nach San Damiano geworben. Aus Neugierde benutzten diese die günstige Gelegenheit, nach Norditalien zu kommen. Doch Frau Hein brachte sie bekehrt zurück. Frau Hein hatte sie in ihr inständiges Gebet eingeschlossen und anderen Pilgern empfohlen, für sie zu beten.
Dass aber ein Mädchen, das Religionslehrerin werden wollte, sich so aufführte, das war unbegreiflich. Da musste der Teufel seine Hand im Spiel haben. Das Verhalten von Anneliese war natürlich anderen Wallfahrern aufgefallen, und man tuschelte darüber, wenn nicht gerade gebetet wurde. Der Vater aber setzte sich zu seiner Tochter, und beide beteiligten sich am Gebet. Bei der nächsten Gelegenheit aber bat Anneliese Frau Hein, sie doch nicht abzuweisen; denn sie allein könne ihr helfen. Sie fühle sich bei ihr so geborgen und von ihr angezogen. Ihr erzählte sie dann alle ihre Erlebnisse und Zustände und erwählte sie zu ihrer vertrauten Freundin, mit der sie bald per Du war.
Frau Hein ließ das sonderbare Verhalten von Anneliese keine Ruhe mehr, zudem sie nun auch von den Eltern der Anneliese erfuhr, was sonst noch alles los war. Sie sprach daher mit Herrn Pfarrer Habiger von der Pfarrei „Unserer Lieben Frau" in Aschaffenburg. Außerdem bat sie den vom Besessenheitsfall der „Magda" in Trier her bekannten Jesuitenpater Rodewyk, sich um den Fall Anneliese Michel anzunehmen.
Als Frau Michel mit ihrem Sorgenkind am 3. September 1973 wieder Herrn Dr. Lüthy aufsuchte in der Hoffnung, dieser könne ihr helfen, sagten sie ihm diesmal, dass sie (Anneliese) öfters Teufelsfratzen sehe und von ihnen belästigt werde, und wie dies sich auf sie auswirke. Dass dieser Arzt ihnen dann sagte, sie müssten da zu einem Jesuiten gehen, bestritt er bei späteren Vernehmungen.

Auf der Suche nach priesterlichem Beistand

In jener Zeit gingen die Eltern Michel zusammen mit Anneliese auch zu Herrn Pfarrer Habiger, um ihm ihre Sorgen und den Verdacht der Besessenheit bei Anneliese vorzutragen. Er fand jedoch Anneliese als völlig normal und empfahl, einen Nervenfacharzt aufzusuchen. Dies wurde von Anneliese für zwecklos gehalten.
Beim nächsten Besuch war auch Kaplan Roth da, der sich für diesen Fall sehr interessierte. Er erzählte davon dann seinem Freund Ernst Alt, seinerzeit Kaplan der Pfarrei St. Agatha in Aschaffenburg, in nächster Nähe des Justizgebäudes und des Hauptbahnhofs gelegen. Er weihte ihn in die Angelegenheit ein, nicht nur weil er sein Freund war, sondern vor allem weil Kaplan Alt außergewöhnliche Fähigkeiten, wie Telepathie (Gedankenübertragung» und Vorahnung, aufwies. Kaum hatte Kaplan Roth den Fall Anneliese geschildert, konnte Kaplan Alt die ganze Familie Michel samt der Großmutter beschreiben, obwohl er sie erst zwei Wochen später zum ersten Mal wirklich sah. Ferner konnte er angeben, dass bei Anneliese eine große Ausstrahlung vom Kopf und vom Hals ausging.
Ein paar Tage darauf bekam Kaplan Alt Besuch von dem pensionierten Herrn Pfarrer Herrmann, der ihm je einen Brief von Frau Michel und Anneliese überbrachte. Kaum hatte er die beiden Briefe in der Hand, wurde ihm, ohne dass er sie geöffnet hatte, so übel, dass er glaubte, die Besinnung zu verlieren. Er geriet zum Erschrecken und Staunen des Herrn Pfarrer Herrmann in große Erregung. Als er abends Anneliese ins Messopfer einschloss, verspürte er vor der hl. Wandlung einen Stoß in den Rücken, und ein kalter Luftzug überwehte seinen Kopf von rückwärts. Gleichzeitig roch es stark nach Brand. Er spürte eine dämonische Atmosphäre um sich und konnte nur noch mit größter Mühe die Wandlungsworte sprechen und die hl. Messe zu Ende beten. Noch am Abend besuchte er seinen Mitbruder und berichtete ihm vom Erlebnis. Die folgende Nacht erfüllte Brandgeruch und abscheulicher Gestank sein Zimmer. Auch vernahm er lautes Gepolter in seinem Schrank. Nachdem er in seiner Not wiederholt den verstorbenen Pater Pio angerufen hatte, erfüllte ein starker Veilchenduft sein Zimmer, und die Bedrängnis hörte sofort auf. Dies erzählte er abends seinen geistlichen Mitbrüdern im Pfarrhaus „Unserer Lieben Frau", und da mussten auch diese plötzlich den Teufelsgestank wahrnehmen. Trotz Öffnung der Fenster hielt dieser noch lange an. Diese Erlebnisse hatte Kaplan Alt noch einige Male. Sie wurden geringer oder hörten auf, wenn er den Exorzismus betete.
Anneliese Michel lernte er erst ein paar Wochen später kennen. Sie machte auf ihn einen niedergeschlagenen Eindruck, hatte sie doch bisher keinen Priester gefunden, der ihr glaubte. Bei einem Gespräch mit ihr geschah es, dass sich ihr Gesicht plötzlich veränderte, ihre Augen dunkel wurden und sie nicht mehr ansprechbar war. Gleichzeitig sah er hinter ihr einen Schatten auftauchen. Auf die Frage, was los sei, sagte sie, dass sie belästigt werde. Er gab ihr den Segen, und der Spuk war verschwunden. Auch der Segen der anderen Priester brachte ihr Erleichterungen. Ferner half die priesterliche Anteilnahme des Herrn Kaplan Alt ihr zu einer besseren Gemütsverfassung, wenn sie auch weiterhin den dämonischen Belästigungen ausgesetzt war.

Trotzdem Studium in Würzburg und Freundschaft mit einem jungen Herrn

Anneliese bekam wieder Mut, nun das Studium in Pädagogik und Theologie in Würzburg zu beginnen. Sie wohnte im Ferdinandeum in Würzburg.
Einige ihrer früheren Freundinnen bzw. Schulkameradinnen von Aschaffenburg waren auch hier an der PH, so Ursula Kuzay. die ihre Zimmergenossin wurde. Gerne besuchte sie in Würzburg einige Kirchen. So hielt sie sich viel in der Anbetungskapelle der Neumünsterkirche im Stadtkern auf. Anneliese blühte sichtlich auf. als sie bei einem Tanz im Ferdinandeum mit dem Studenten Peter H. zusammenkam, dessen Zuneigung sie sofort gewann. Allen ihren Freundinnen und Bekannten fiel auf, dass sie nun wie ausgewechselt war. Sie besuchten meist gemeinsam die Vorlesungen. Doch nach zwei Wochen eröffnete Anneliese ihrem Freund, dass es keinen Zweck habe, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Peter war über diese Mitteilung wie aus den Wolken gefallen und ließ sich nicht abweisen, auch als sie nun ihre Absicht mit ihren Depressionen zu begründen versuchte. Sie konnte es ihm vorerst noch nicht näher erklären. In ihrer Ehrlichkeit wollte sie ihm eine spätere Enttäuschung ersparen und deshalb gleich Schluss machen. Aber Peter ließ sich nicht abschütteln. Und dies war gut so für Anneliese; denn notwendig sollte sie ihn noch brauchen.

Weitere ärztliche Behandlung

Am 27.11.1973 suchte Anneliese den Assistenzarzt Herrn Dr. Lenner im Institut für Psychologie und Therapie in Würzburg auf und schilderte ihm ihre Schwierigkeiten. Von den Eltern und Priestern war ihr nämlich immer wieder empfohlen worden, in ärztlicher Behandlung zu bleiben. Dr. Lenner bestellte sie zu weiteren Gesprächen für den 11.12.73, 29.1.74 und 7.5.74. Sie konnte ihm jedoch nicht alles sagen, was notwendig gewesen wäre, so die Sache mit den Teufelsfratzen. Es fehlte das nötige Vertrauen. Am 20.11.73 hatte sie zum 7. und letzten Mal von Herrn Dr. Lüthy die Arznei Zentropil verordnet bekommen, ohne dass sie einen Erfolg verspürte. Auch Herr Dr. Lenner vermutete auf Grund ihrer Schilderung bei ihr Epilepsie und verwies sie an Frau Direktor Dr. Schleip, in deren Sprechstunde sie am 28.11.73 erschien. Am 4.12.73 fertigte diese ein Hirnstrombild von ihr, das nun epileptische Musterhinweise auf herdförmige Hirnschädigung im linken Schläfenbereich aufwies. Mindestens fünfmal war sie in der Vergangenheit bei Hirnstromaufnahmen organisch gesund befunden worden. Es muss daher diese nun festgestellte Hirnschädigung als eine Folge der verabreichten Arznei Zentropil betrachtet werden. Die im April 1973 aufgetretenen Röteln hätten ein Warnzeichen für die Ärzte sein müssen, Epilepsie bei ihr anzunehmen und Zentropil anzuwenden. Nun wurde die Arznei Tegretal verordnet, die wirken konnte, da ja jetzt eine echte Hirnschädigung vorlag. Sie baute sich schnell ab. Bereits am 17.12.73 stellte man eine ,,merkliche Besserung" fest. Das Hirnstrombild vom 18.4.74 zeigte „nur noch Anhaltspunkte für Schläfenepilepsie links", und das Hirnstrombild vom 25.1.75 weist „Beschwerdenfreiheit" auf. Zufrieden war man auch noch am 13.6.75. Doch Tegretal wurde weiterhin verordnet! Auch der Hausarzt Dr. Kehler verordnete diese Arznei im Juli 1975. am 7.10.75 und am 31.10.75 sowie nochmals am 1.12.75. Vom Hausarzt des Ferdinandeums, Herrn Dr. Wolpert, wurde noch am 9.3.76 Tegretal verordnet. Anneliese brachte jedoch auch mit Hilfe von Tegretal weder die Fratzen noch dem Gestank noch die dadurch entstandenen Depressionen los. Von den Fratzen und dem Gestank erzählte sie ihrem Peter erst im Dezember 1973. Auf dessen Einwände, es könnten dies Halluzinationen sein, sagte sie ihm, dass auch ihre Angehörigen den Gestank und das Gepolter wahrgenommen hätten.
Zum 18.1.1974 wurde Kaplan Alt nun Pfarrer in Ettleben, einige Kilometer südwestlich von Schweinfurt gelegen. Dies ermöglichte Anneliese, ihn ab und zu von Würzburg aus an seinem neuen Wirkungsort aufzusuchen. Sein Gebet und Segen wirkten ja wohltuend auf sie. Weiterhin empfahl er ihr, in ärztlicher Behandlung zu bleiben; denn er glaubte, dass sie auch einen Schaden im Hirn habe. Anscheinend hatte er die bei ihr i festgestellte starke Ausstrahlung des Gehirns für einen Krankheitsherd! statt für den Arbeitsplatz der Dämonen gehalten.
In der Faschingszeit wollte Peter seine Anneliese gerne zum Tanzen mitnehmen. Doch Anneliese, die früher nicht verstehen konnte, warum ihre Mutter gegen das Tanzen war, hatte infolge ihrer Erlebnisse und Depressionen nunmehr keine Freude mehr „an diesem unsinnigen Herumhüpfen und Blödeln".

Keine Besserung

Im März 1974 steigerte sich bei ihr die Unruhe. Es war Fastenzeit. Obwohl sie die verordneten Tabletten Tegretal regelmäßig nahm, tauchten Fratzen immer stärker auf. Beten konnte sie nur mit Mühe. Auch beim Beichten hatte sie Schwierigkeiten, alles zu bekennen.
Als sie einmal nach einer Lehrprobe vorübergehend eine halbseitige Lähmung erlitt, vermutete Herr Dr. Lenner natürlich als Ursache wieder die Epilepsie. Dass die Arznei Tegretal daran schuld sein konnte, daran dachte er vermutlich nicht. Herr Pfarrer Alt glaubte an die Möglichkeit der dämonischen Be- bzw. Umsessenheit, hatte er doch schon so viele Dinge im Umgang mit Anneliese erlebt, die keineswegs mit Epilepsie erklärt werden konnten. Gelegentlich eines Besuches seines Bischofs in Ettleben hatte er ihm bereits von seinem von Aschaffenburg mitgebrachten Seelsorgsfall berichtet. Frau Thea Hein hatte ihn gedrängt, etwas beim Bischof zwecks Genehmigung des Exorzismus zu unternehmen. Daher beantragte er denselben mit ausführlicher Begründung im Schreiben vom 30.9. 1974. Der feierliche Exorzismus wurde aber noch nicht genehmigt, sondern der Auftrag gegeben, Anneliese weiterhin zu beobachten. Anneliese musste sich daher vorerst mit dem priesterlichen Gebet und Segen von Herrn Pfarrer Alt zufrieden geben. Sie spürte stets dabei große Erleichterung.
Da sie noch keine Hilfe von der Kirche erwarten konnte, beschloss sie, sich verstärkt dem Gebete hinzuwenden. So unternahm sie noch 1974 weitere Wallfahrten nach San Damiano. Von ihren bisherigen Freundinnen zog sie sich immer mehr zurück, da diese nicht viel Verständnis für ihren Gebetseifer aufbrachten. Dafür schloss sie sich einer kleinen Gebetsgemeinschaft an, die an der Tradition festhielt. Für manche Neuerungen in der Liturgie war sie nicht eingenommen. Auch mit Peter kam sie nicht mehr so viel zusammen. Doch benutzte sie dessen Volkswagen, nachdem sie ihren Führerschein erworben hatte. Am 28.2.1975 hatte sie eine Lehrprobe mit „gut" hinter sich gebracht.

Verschlechterung trotz Arzt und Arznei

Doch nach und nach verschlechterte sich ihr Zustand wieder, so dass sie manchmal tagelang das Bett hüten musste. Sie sah blass aus und war sehr bedrückt. Offensichtlich sah sie eine neue Drangsal auf sich zukommen. Sie kam, indem sie zunächst an Appetitlosigkeit litt und in ihrer Zulassungsarbeit nicht vorankam. Wenn eine ihrer neuen Freundinnen in ihrem Zimmer für sie im stillen betete, so bat sie. dies zu unterlassen. Sie bekam große Abneigung gegen geweihte Gegenstände, wie Bilder und Weihwasser, warf den Rosenkranz weg oder schüttete Wasser aus San Damiano auf den Boden. Sie konnte nur bis zur Kirchentüre gehen, nicht aber in die Kirche hinein. Ihre Beine wurden, wie ihre Begleitung bemerkte, ganz steif. Es kam vor, dass mitten in einem Gespräch mit einer Freundin oder mit Peter sich plötzlich ihr Gesicht zu einer Fratze veränderte, so dass diese ihren Zustand der Besessenheit zuschrieben. Auch Herr Pfarrer Alt war dadurch zu dieser Ansicht gekommen. Sein Gebet und Segen zeigten nun keine Wirkung mehr. Trotzdem bat sie ihn in ihrer Not, sie in Würzburg zu besuchen. Er fand sie ganz verzweifelt vor. Sie äußerte, das Gefühl zu haben, verdammt zu sein. Sein Segen hatte kaum Wirkung. Dagegen bemerkte er, dass eine große unerklärliche Kälte von ihr ausging. Als er still den Exorzismus betete, zerriss sie laut schreiend ihren Rosenkranz. Dem herbeigeholten Peter schrie sie in drohender Haltung und mit veränderter Stimme zu: „Peter, raus!"

Von dämonischer Besessenheit überzeugt

Herr Pfarrer Alt fand auf dem Schreibtisch von Anneliese einen Zettel, auf welchem sie ihre Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck gebracht hatte. Sie schrieb von einem Damm, den sie braucht, um sich gegen die Macht behaupten zu können, die sie zu vernichten drohe. Die telefonisch herbeigeholten Eltern nahmen ihre Anneliese am 17.7.75 mit nach Hause. Dort konnte sie wieder essen; sonst aber blieben ihre Zustände unverändert. Sie konnte nicht mehr beten. Frau Thea Kein kümmerte sich immer wieder um sie und empfahl, anstelle des so weit entfernt wohnenden Herrn Pfarrer Alt den Kaplan Roth zuzuziehen. Als dieser dann kam, traf er im Wohnzimmer, in welchem sich vorher Anneliese aufgehalten hatte, einen furchtbaren Gestank an. Obwohl ihr vom Kommen des Kaplans vorher nichts gesagt worden war, wusste sie davon und sagte: „Der Roth, dieser Hund, kommt auch." In der Küche traf er Anneliese an. Bei seinem Eintreten rannte sie sofort in drohender Haltung auf ihn los, blieb aber kurz vor ihm stehen und ging wieder zurück. Dies wiederholte sich. Dann tobte sie und schrie: „Gehen Sie raus, Sie quälen mich!" Sie zerfetzte einen Rosenkranz und warf ihn zu Boden. Als Kaplan Roth aus seiner Brusttasche ein Kreuz herausnehmen wollte, um sie zu segnen, tobte sie, nahm einen Kanister Wasser aus San Damiano und wollte nach ihm werfen. Doch der Kanister blieb zunächst in der Luft stehen und fiel dann neben ihr zu Boden.
Kaplan Roth war nun voll überzeugt, dass Anneliese vom Teufel besessen sei, und berichtete seinem Freund, Herrn Pfarrer Alt, von dem Erlebnis. Dieser hatte die gleiche Erkenntnis auch bereits seit Wochen, und auf das Drängen der Familie Michel bat er seinen Bischof telefonisch um die Erlaubnis des Exorzismus. Doch der Bischof mahnte wieder zur Geduld. Darum wollte Herr Pfarrer Alt dem Bischof persönlich die Notwendigkeit der sofortigen Anwendung des großen Exorzismus vortragen. Unterdessen aber war der Bischof in den Urlaub abgereist. Fernmündlich erreichte Herr Pfarrer Alt dann die Genehmigung zum kleinen Exorzismus.
Ende Juli 1975 hatte Peter die vorübergehende Befreiung der Anneliese von der dämonischen Belästigung dazu benutzt, sie nach Würzburg zu fahren, damit sie sich für das nächste Semester eintragen konnte. Auf dem Heimweg von einem Einkauf in Würzburg änderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck und versteiften sich ihre Beine, so dass sie lange Zeit brauchten, bis sie das Ferdinandeum erreichten. Vor einem Kruzifix in ihrem Zimmer knurrte sie wie ein Tier, knirschte mit den Zähnen und blickte hasserfüllt zum Kreuz. Daher fuhr Peter sie sofort nach Klingenberg zurück. Wenige Tage darauf beteten Herr Pfarrer Alt und Kaplan Roth gemeinsam den kleinen Exorzismus nach Papst Leo XIII.. Anneliese fing an zu wimmern und bat aufzuhören, da es brenne. Sie versuchte, Herrn Pfarrer Alt das Gebetbuch aus der Hand zu schlagen. Nur kurz wurde die Krise bei ihr unterbrochen; dann ging das Wimmern wieder weiter.
Einige Tage darauf fuhr Herr Pfarrer Alt in Urlaub und berichtete von seinem Aufenthaltsort aus seinem Bischof, wobei er zum Ausdruck brachte, dass sich durch den angewandten kleinen Exorzismus Anneliese zwar etwas beruhigt, jedoch nicht wesentlich gebessert habe. Tatsächlich war bald darauf im Hause Michel der Teufel erneut los in einer Weise, wie dies bisher noch nicht der Fall war.

Furchtbare Bedrängnis durch die Dämonen

Die Bedrängnis der Anneliese durch die Dämonen muss in jener Zeit furchtbar gewesen sein. Mitten in der Nacht fegte sie wie eine Hexe durch das Haus und trieb Eltern und Geschwister aus dem Bett mit dem Ruf: ,,Wir da unten haben auch keine Ruh!" Tagelang konnte sie kaum mehr schlafen und schrie die Nacht hindurch: „Mein Jesus, Verzeihung und Barmherzigkeit, Verzeihung und Barmherzigkeit!"
Sie rannte hinauf zum Boden oder in den Keller wie ein Geißbock und wälzte sich nackt im Kohlenstaub. Im Innern glühend vor Hitze, suchte sie Kühlung im eiskalten W7asser in einem Waschkessel, steckte den Kopf m die Toilette, riss sich die Kleider vom Leihe, presste ihr Gesicht auf den Boden und lehnte jede Hilfe durch die Angehörigen ab. weil sie sonst noch Schlimmeres auf sich hätte nehmen müssen. Sie durfte nicht im Bett liegen, sondern musste sich mit dem blanken Boden zufrieden geben. Ihre Halsmuskeln wurden steif wie Stahl, so dass sie nicht schlucken konnte und nur ab und zu etwas Flüssiges hinunterbrachte.
Frau Thea Hein weiß zu berichten, dass sie, die das Doppelte an Gewicht hatte wie Anneliese, von ihr wie eine Puppe unter den Arm genommen und vom Zimmer hinaus- und hereingetragen wurde. Der Schwester Roswitha passierte es, dass sie von Anneliese wie ein Gegenstand auf den Boden hingeschleudert wurde.
Während sie Essbares trotz Hunger nicht essen durfte, musste sie Kohlen kauen, Fliegen und Spinnen verzehren und ihren eigenen Urin vom Boden aufsaugen. Niemand ihrer Angehörigen war vor ihren Schlägen. Stößen und Bissen sicher. Ihr Gesicht war von Hass verzerrt, wenn sie jemand küsste. Alles, was geweiht war, war ihr verhasst. Wasser aus San Damiano goss sie auf den Boden, zerfetzte Rosenkränze, zerschmetterte Kruzifixe. Kamen Priester, so wurden diese von ihr angegriffen. Hielt ein Priester seine geweihten Hände über sie, so befahl sie: „Nehmen Sie Ihre Pfote weg, das brennt wie Feuer!" Betete ein Priester still ein exorzistisches Gebet, so hatte sie das Gefühl, als hätte sie ihre Hand in einem Wespennest stecken.

Das Wochenende

Die Sonn- und Feiertage waren für sie die schlimmsten Zeiten der Woche. Der 15. August 1975, der Maria-Himmelfahrtstag, war nach ihrer späteren Erzählung der furchtbarste Tag, den sie seither erlebt hatte. Es war ihr an diesem Tag unmöglich, die Kirche zu betreten und zu beten, so sehr wurde sie von einer unsichtbaren Macht gehindert. Sonderbare Fliegen schwärmten vor den Fenstern der Wohnung, und abscheuliche kleine Tiere huschten in der Wohnung umher und erschreckten alle, die im Hause waren. Das war Teufelsspuk. Wenn sich die Eltern, Roswitha und Peter in der Bewachung auch abwechselten, so waren sie doch begreiflicherweise bald am Ende. Es kam auch einmal vor, dass Anneliese durch die mit Schlüssel abgesperrte Zimmertür ging, ohne mit einem Schlüssel aufzusperren. Die Nachprüfung ergab, dass das Schloss in Ordnung war. Was einst einem Engel bei der Befreiung des hl. Petrus aus dem bewachten Kerker möglich war. war hier auch den Dämonen möglich.
Anneliese lag einmal zwei Tage lang in der Küche unter dem Tisch und bellte wie ein Hund. Alles gute Zureden oder Befehlen der Angehörigen, sie solle hervorkommen, half nichts. Da dachte man an Thea Hein und bat sie telefonisch, herbeizukommen. Und der gute Geist kam und traf Anneliese noch bellend unter dem Tisch an. Da befahl sie der Anneliese dreimal im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit, hervorzukommen. Wie ein Lamm folgte sie und war wieder normal.
Bereits seit Jahren wollten die Dämonen Anneliese zur Verzweiflung und zum Selbstmord bringen. Auch wollten die Dämonen öfters, dass Anneliese aus dem Fenster springe. Da war es wiederum Frau Hein, die ihr wiederholt zu Hilfe kam, die keine Ruhe hatte, wenn sie ihre Anneliese zu Hause nicht antraf. Sie suchte sie in der Umgebung und fand sie wiederholt an der Schleuse des Maines, wohin sie die Dämonen getrieben hatten, damit sie ins Wasser springe. Ihre Seele willigte jedoch in den Willen der Dämonen nicht ein. Sie sollte sich aufhängen, aus dem Fenster oder ins tiefe Wasser des gestauten Maines springen.
Frau Michel erlebte es, dass Anneliese in ihrer Gegenwart einmal vom Sofa aus in die Höhe gerissen wurde bis unter die Zimmerdecke, sich ein paarmal dabei überschlagend und dann wieder auf dem Sofa landete. Sie zeigte Manieren, wie man sie im Volksglauben dem Teufel nachsagt. Sie ging manchmal mit bocksteifen Beinen wie auf Stelzen und im Bruchteil von Sekunden drehte sie sich um und schlug wie ein Pferd nach den Angehörigen aus.
Wenn auf dem Platz neben dem Main ein Volksfest gefeiert wurde, musste Anneliese mit den Augen der Dämonen die sittlichen Verfehlungen sehen, die sich Bekannte von ihr in der Dunkelheit zuschulden kommen ließen. Nicht nur Gott weiß sonach um die geheimsten Sünden, sondern auch der Teufel. Er verleitet ja die Menschen dazu durch seine Eingebungen.
Als Frau Thea Hein solche trostlosen Zustände im Hause Michel antraf, wollte sie, dass Herr Pfarrer Alt zu Hilfe gerufen werde. Dies hatte bereits Herr Michel erreichen wollen; jedoch war der Priester in Urlaub. Herr Pfarrer Habiger, den man nun bewegen wollte, zu kommen und zu helfen, riet ihnen, Anneliese zum Nervenarzt oder in die Nervenklinik zu schicken. So wandte sich Frau Hein zuletzt an Herrn Pater Rodewyk in Frankfurt. Dieser wollte eine schriftliche Schilderung des Verhaltens von Anneliese in der letzten Zeit. Sie wurde ihm sofort zugeschickt. Frau Hein erreichte seine Zusage zu kommen. Sie holte ihn am Bahnhof Aschaffenburg ab und fuhr ihn nach Klingenberg. Anneliese lag bei seinem Kommen in der Küche wie in einem Tiefschlaf. Er ließ sich zunächst im Wohnzimmer nochmals über die Geschehnisse der letzten Wochen unterrichten. Auf sein Verlangen führte der Vater Anneliese herein. Er musste ihre Hand festhalten, weil sie nach ihren Eltern schlagen wollte. Dann nahm Herr Pater Rodewvk neben ihr Platz und hielt ihre Hände.

Judas meldet sich

Da ließ sich aus Anneliese auf einmal in veränderter tiefer Stimme eine zweite Person hören. Der Pater fragte diese nach dem Namen. ,, JUDAS" war die Antwort. Pater Rodewyk darauf: „Wir kennen uns doch!" Man wusste nun Bescheid. Dem einstigen Exorzisten von Trier war es jetzt klar, dass dämonische Besessenheit vorlag. Mit diesem Judas hatte er ja beim Fall „Magda" jahrelang zu tun. (Siehe „dämonische Besessenheit heute" von Pater Rodewyk).
Bestätigt sah sich auch Frau Thea Hein in ihrer Überzeugung, dass Anneliese besessen sei. Die Verkrampfung bei Anneliese wich, und Patzer Rodewyk konnte sich nun ganz normal mit ihr unterhalten. Er versicherte ihr, dass er sie nicht im Stich lassen werde. Sie ging dann in die Küche zurück. Dort fiel sie plötzlich wieder in die Krise. Als Pater Rodewyk die Wohnung verlassen wollte, kam Anneliese herbei und gab dem greisen Priester eine Ohrfeige. Das war wohl die Rache von Judas dafür, dass er von ihm aufgestöbert worden war. Alsdann hörte man Musik aus dem Wohnzimmer. Anneliese saß am Klavier, als wäre sie völlig normal.
Anneliese hatte in den letzten Tagen trotz Hungergefühl nichts zu sich nehmen dürfen. Hatte sie versucht, etwas zu essen, so konnte sie entweder den Mund nicht öffnen oder nicht schlucken. Beim Kommunizieren geschah es einmal, dass sie die hl. Hostie nicht hinunterbrachte. Sie musste sie daher im Munde zergehen lassen. Die Eltern Michel und Peter überlegten sich daher, ob sie wegen des erzwungenen Fastens nicht den Hausarzt einschalten sollten. Doch da konnte sie auf einmal regelmäßig am Essen teilnehmen, so dass sie bald wieder ihr Normalgewicht hatte. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub kam Herr Pfarrer Alt in Aschaffenburg mit Herrn Pater Rodewyk, Kaplan Roth. Pfarrer Habiger und Herrmann zusammen, um sich mit ihnen über die weiteren Schritte zu beraten. Pater Rodewyk verlas sein Gutachten, in welchem er zum Ausdruck brachte, dass es sich bei Anneliese Michel um einen klassischen Besessenheitsfall handele. Man beschloss, Herr Pfarrer Alt sollte erneut beim Bischof von Würzburg um die Genehmigung des großen Exorzismus bitten.

Bestellung eines Exorzisten

Wegen der großen Entfernung zwischen Ettleben und Klingenberg wollte man als Exorzisten den Pater Arnold Renz. Superior im Kloster Rück-Schippach und Pfarrer der dortigen Pfarrei, dem Bischof vorschlagen. Pater Arnold Renz willigte nach drei Tagen Bedenkzeit ein, und so wurde er vom Bischof auf den Bericht von Pfarrer Alt hin mit Schreiben vom 16.9.1975 zum Exorzisten für Anneliese bestimmt. Zur besseren Geheimhaltung des Falles wurde in der Genehmigung für Anneliese der Deckname „Anna Lieser" gewählt. Der Text des Schreibens lautet:

„Hiermit beauftrage ich nach reiflicher Überlegung und guter Information H. H. Pater Renz, Salvatorianer, Superior in Rück-Schippach, bei Frl. Anna Lieser im Sinne von CIC can 1151 § 1 zu verfahren. Mein Gebet gilt seit längerer Zeit diesem Anliegen. Möge Gott uns helfen! Ich danke aufrichtig für diesen Einsatz.

Mit herzlichen Segenswünschen
gez. Josef
Bischof von Würzburg"

CIC ist die Abkürzung für Codex Juris Canonici. Can 1151 § 1 enthält die kirchlichen Richtlinien zur Vertreibung böser Geister.
Das bischöfliche Schreiben traf am 23.9.1975 bei Herrn Pater Arnold Renz ein. Noch am gleichen Tag besuchte er die Familie Michel, wo er außer den Eltern und Anneliese auch deren Schwester Roswitha und Barbara antraf. Anneliese war nicht in der Krise, und so konnte er sich mit ihr ganz normal unterhalten. Anneliese stellte sich ihm vor mit den Worten: ,,ich bin die, wo", worauf der Pater sagte: „Ich bin der, wo."
Nicht im geringsten, sagte er später, hätte man ihr etwas von der Besessenheit anmerken können. Bei seiner gütigen und väterlichen Art gewann er alsbald deren Vertrauen.

Endlich Exorzismus

Die erste exorzistische Sitzung war bereits am nächsten Tag um 16.00 Uhr. Anwesend waren außer der Familie Michel und Peter auch Kaplan Roth. Pfarrer Herrmann und Frau Hein. Später kam auch deren Mann hinzu. In einem Zimmer, dessen Fenster zum Bergabhang gerichtet ist, war ein kleiner Hausaltar mit einem Kruzifix, einer Christusstatue, einer Marienstatue, Statuen von Erzengel Michael und Pater Pio aufgestellt.
Pater Arnold begann mit der Allerheiligen-Litanei und fuhr dann mit den im Exorzismus vorgesehenen lateinischen Gebeten fort. Er besprengte Anneliese mit Weihwasser und berührte sie mit der geweihten Stola. Dies konnten die Dämonen nicht vertragen. Anneliese bzw. die Dämonen in ihr wurden unruhig und fingen an zu brüllen und zu toben. Vater Michel. Peter und Herr Hein mussten Anneliese halten. Irgendwie wollte sie ihre Umgebung angreifen mit Beißen, Stoßen, Fußtritten usw. Mit abscheulichen Ausdrücken wurden der Exorzist und andere Anwesende belegt. Nicht von Anneliese kamen die Angriffe und die ordinären Ausdrücke und Äußerungen, sondern von den unreinen Geistern, die in ihr hausten, die von ihr Besitz ergriffen hatten. Sie dirigierten über die Schaltzentrale des Gehirns ihre Sprechorgane und ihren ganzen Körper. Anneliese war in der Krise nicht bewusstlos, wie dies zum Teil bei anderen Besessenheitsfällen, z. B. bei den Illfurter Knaben im Elsass im vorigen Jahrhundert, der Fall war, die nach der Krise nicht wussten, was in derselben mit ihnen los war. Anneliese hörte alles, was die Dämonen aus ihr sprachen.
Der Exorzist stellte die in den Richtlinien vorgesehenen Fragen an die Dämonen, so nach ihrem Namen, ihrer Anzahl, dem Grund der Besessenheit, dem Zeitpunkt des Einfahrens und des Ausfahrens, etwaigen Aufträgen usw. Zu all diesen Fragen gab es am ersten Tag keine Antwort seitens der Dämonen. Jedoch haben sie ihr Opfer von hinten mit Rippenstößen bearbeitet.
Pater Arnold beschwor immer wieder im Namen des Dreifaltigen Gottes und unter Anrufung der Gottesmutter, aller Engel und Heiligen die Dämonen, von Anneliese abzulassen, von ihr auszufahren und in die Hölle zurückzukehren. Dies war auch der inständige Wunsch aller Anwesenden, am meisten der von Anneliese. Voller Hoffnung hatten alle diesen Exorzismus herbeigesehnt, am meisten Anneliese, die am schlimmsten unter der Gewaltherrschaft der Dämonen litt. Vom Erfolg des Exorzismus hing ja auch die Gestaltung ihres künftigen Lebens ab. Nach 5 Stunden musste Pater Arnold jedoch diese erste exorzistische Sitzung abbrechen, ohne dass die Dämonen ihre Namen preisgaben. Bei Christus genügten ein paar Worte, und Besessene waren befreit, mochten noch so viele in ihnen gewesen sein. Christus wollte seinerzeit mit den Austreibungen vor allem zeigen, dass Er auch Macht über die Dämonen hat. Was für eine Aufgabe aber hatte Gott der Besessenheit von Anneliese gegeben? Dies sollte sich erst im Laufe der Zeit zeigen.
Bei Anneliese, die durch das Treiben der Dämonen während des Exorzismus sehr mitgenommen zu sein schien, hatten sich alsbald nach dem Ende desselben die Dämonen wieder zurückgezogen; die Krise war weg, und sie meinte: „Jetzt hätte man weitermachen sollen."
Weitergemacht wurde am 28.9.1975, einem Sonntag. Thea Hein war auf den sehr guten Gedanken gekommen, ein Tonbandgerät mitzubringen. Pater Arnold hatte sich nach der ersten Sitzung aus dem Gedächtnis heraus wohl Notizen gemacht. Aber er konnte während des Gebetes nicht genügend auf etwaige Äußerungen der Dämonen achten, und so beschloss auch er, künftig ein Tonbandgerät zu verwenden; ebenso Familie Michel. Von welchem Wert diese Aufnahmen waren, sollte sich bereits an diesem Tag zeigen.
Wieder begann der Exorzist mit den Gebeten. Anneliese bzw. die Dämonen wurden unruhig, brüllten und tobten, wenn Weihwasser gesprengt wurde, wenn der Priester das Kreuzzeichen auf die Stirn von Anneliese machte. Nach einer Weile gelang es, einen Dämonen zum Reden zu bringen. Es ist Judas Iskariot, der zum Sprecher des heutigen Tages wurde. Er muss aussagen im Auftrag des Himmels, sei es der Gottesmutter oder gar von Christus, deren Namen er nicht aussprechen kann. Heilige Dinge und Worte sind den Dämonen verhasst. Was er zu sagen hat, kann er nicht geordnet bringen nach unseren Vorstellungen. Er bringt die einzelnen Punkte durcheinander; einmal dies, einmal jenes.

Auszug aus dem Buch "Anneliese Michel und die Aussagen der Dämonen" von Kaspar Bullinger

Das Leben und Sterben der Anneliese Michel und die Aussagen der Dämonen

Ruhland-Verlag, Rudolf-Diesel-Str. 5, 84503 Altötting

DIN A5, 164-seitig, Best.-Nr. 035, 8,50 €

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